Die Hávamál, „Die Rede des Hohen“ im Liederbuch Edda, ist ein aus ursprünglich sechs selbständigen Teilen verschiedenen Alters und Inhaltes, unterschiedlicher Stimmungen und Strophenformen zusammengebrachtes Gedicht. Der Schöpfer dieses umfänglichsten eddischen Reimwerkes beabsichtigte trotzdem, es als Ganzes Gott Odin in den Mund zu legen. Das geht allerdeutlichst aus dem Titel, ebenso aus dem Schlußvers hervor, der mit den Worten beginnt: „Nun ist die Rede des Hohen gesprochen, in der Halle des Hohen ...“. Alle 164 Strophen werden also unter der Fiktion zusammengefaßt: Har (Hávi) „der Hohe“, d.h. Odin, habe sie in seiner Halle gesprochen, sie seien demgemäß eine Lehre Gottes. Etliche Partien aber erweisen, daß dies kein durchgehender Grundgedanke aller Hávamál-Teile gewesen sein kann. Lautet doch die Strophe 110: „Von Runen hörte ich den Hohen reden und von der Deutung nicht schweigen in der Halle des Hohen.“ So spricht schwerlich Odin von sich selbst. Auch Vers 109 wäre kaum als selbstbezichtigendes Gotteswort zu erklären. Da heißt es: „Auf den Ring hat Odin den Eid geleistet, wer darf seinen Treueschwüren trauen? Beim Trunke hat er den Suttung betrogen und die Gunnlod in Gram versenkt.“ Die hier erwähnte Verführung der Riesentochter Gunnlod durch Odin gehört in das Genre der burlesken Götterschwänke, welche als volkstümlicher Teil des germanischen Asenglaubens Geltung besessen haben könnte. Es mag wohl sein, daß derartige pikante Göttermärchen sehr altes Erzählgut darstellen; ähnlich der homerisch-olympischen Eskapaden. Doch zum wahren Zentrum des Gottesverständnisses gehörten die einen wie die anderen sicher nicht. Jede Religion hat ihre Niederungen und ihre Höhen. Der schwedische Hávamál-Forscher lvar Lindquist wird recht genau ins Schwarze getroffen haben, wenn er von der „verwüsteten“ Form des Gedichtes sprach und folgerte, daß es während des 13. Jh. in die Hände eines altertumsfreundlichen, aber frommen Christen fiel, der es der Nachwelt zwar zu bewahren wünschte, es aber zugleich seines heidnisch-religiösen Charakters zu berauben trachtete; er „entstellte“ es deshalb „mit Wissen und Willen“, strich oder tarnte das Anstößige, indem er es in unverständliche Zusammenhänge setzte, warf alles durcheinander, „um ein Labyrinth ohne Ein- und Ausgang zu schaffen“.Á Das Ergebnis dieser Mißhandlung sind die überlieferten Hávamál. Trotz dieser unsicheren Verfassung der Hávamál nahm der Wiener Guido List die Verse von 146 bis 163 als Grundlage seiner Runenlehre, die er unter dem Titel „Das Geheimnis der Runen“ 1912 veröffentlichte. Es handelt sich um 18 kaum einen Hochgott charakterisierende Zaubersprüche gegen verschiedene Bedrohungen oder zur Erlangung nur allzu menschlicher Vorteile. Nicht der geringste Hinweis ist vorhanden, daß diese 18 Lieder mit Runenzeichen in Verbindung gebracht werden dürfen! Die einzige Erwähnung einer Anzahl von Heilsrunen unter den Edda-Texten findet sich im Runatal, dem „Lied von der Siegspenderin“ (Sigrdrifumál 5-7). Die Walküre Sigrdrifa bietet ihrem Erlöser Sigurd Wonnerunen im Zaubertrank und lehrt ihn Weisheit in Gestalt von: 1.
Siegrunen zur Siegerlangung, 2.
Trankrunen zur Bekömmlichkeit, 3.
Schutzrunen in Entbindungsnöten, 4.
Brandungsrunen gegen Seenot, 5.
Astrunen zur ärztlichen Heilkunst, 6.
Rederunen gegen unbedachte Sprache und 7.
Denkrunen zur Erlangung von Witz und Verstand. Die Runenbelehrung der Walküre wäre sehr wohl aus der weiblichen Sorge einer liebenden Fee zu verstehen. Dagegen sind die 18 fortlaufenden Zaubersprüche der Hávamál ihrem Gesamtcharakter nach weit davon entfernt, als angemessenes Instrumentarium aus dem Munde des Hochgottes Odin gelten zu können. Wohl eher einem zauberkundigen weltlichen Fürsten mit seinen u.a. sehr profanen Neigungen hätten diese Wünsche im Sinn liegen mögen. Um zu erkennen, daß sie mit den bekannten Runenreihen wirklich nicht in Verbindung zu bringen sind, überprüfe man einmal die 18 eddischen Zauberreimankündigungen selbst oder ihre nachstehend aufgeführten 18 Zielvorstellungen: 1.
Zur Hilfe in jeglicher Not 2.
Zuträglich für des Arztes Amt 3.
Zur Unschädlichmachung des Gegners 4.
Zur Lösung aus Haftbanden 5.
Zur Hemmung feindlicher Geschosse 6.
Zum Schutz vor Verwundungen und Unheilsumkehrung auf den
Sender derselben 7.
Zum Gebäudeschutz vor Feuersbrünsten 8.
Zur Schlichtung von Haß unter Streitenden 9.
Zur Rettung aus Seenot 10.
Zur Unschädlichmachung dämonischer Weiber 11.
Zu
glücklichem Ausritt und Heimkehr bei Kriegsfahrten 12.
Zur Beschwörung Gehenkter zwecks Wissensmehrung durch
Totenbefragung 13.
Zur Festmachung eines Taufkindes gegen Kriegsverwundungen 14.
Zur Geiststärkung bei Zeugnisabgabe über religiöses Wissen 15.
Zur Erlangung von Kraft, Tüchtigkeit und Weisheit 16.
Zur Befähigung erotischer Verführungskünste 17.
Zur Sicherung weiblicher Treue 18.
Geheimspruch, den - wenn überhaupt - nur die allervertrauteste
Gefährtin (Ehefrau oder Schwester) erfahren dürfte Um dem Leser leichten Vergleich zwischen den 18 Hávamál-Sprüchen und den 16 altnordischen Runenbegriffen zu ermöglichen, führe ich auch diese anschließend auf. Die Unvereinbarkeiten sind offensichtlich - auch bei linksläufiger Leserichtung der Runen, d.h. wenn das 16. Zeichen als 1. angenommen wird:
Gegen diese tatsächlichen Feststellungen werden nun von den Anhängern des 18er Runen-Trugbildes zwei Scheinargumente vorgebracht: a)
Die 18 Zauberliedankündigungen (Strophen 146-163)
gehörten zum „Rúnatals Þáttr 0ðin“ (Odins Runengedicht).
Dies ist unrichtig, denn der Hávamál-Teil, welcher in späteren
Papierabschriften der Eddalieder die Überschrift „0dins
Runengedicht“ trägt, beinhaltet allein Odins Selbstopfer sowie
die Runenherkunft der Strophen 138-141. Dann folgen ein zweites
und ein drittes Fragment von insgesamt vier unharmonisch
gemischten Versen, welche ursprünglich nicht zusammengehörten.
Schließlich endet die Hávamál mit der Ankündigung jener 18
Zauberlieder, welche jedoch selbst nicht mitgeteilt werden.
Deutlich hebt mit dem Zauberlieder-Verzeichnis etwas Neues an, so
ist die einhellige Meinung aller sachkundigen Fachleute. Sie
bezeichnen diesen Endteil der Hávamál deshalb als „Lioðatal“
(Liederverzeichnis). b)
Im 157. Vers der Hávamál, dem 12. des sog. „Lioðatal“,
sei vom Ritzen und Färben der Runen die Rede, folglich bezöge
sich dieser - wie alle anderen 17 Verse - auf eine unbekannte,
einstmals vorhanden gewesene 18er Runenreihe. Dieser Schluß ist
haltlos, weil von keiner 12. Rune gesprochen wird, die dem
Zauberspruch organisch zugehörig sei, sondern im Dativ von Runen,
welche auch zur Verstärkung der gewünschten Totenbeschwörung
angewendet werden könnten. Wörtlich heißt es da: „svá
ec rist oc i rúnom fác“ („so auch ritze und färbe ich
Runen“). Der Sinn wäre etwa folgendermaßen zu übersetzen: „So
könnte ich zusätzlich zur Bekräftigung des Zauberspruches auch
Runen benutzen, damit ich mein magisches Ziel rascher erreiche.“
Eine bestimmte Rune, welche zwanghaft dem unbekannt
bleibenden 12. Zauberspruch zugehörig sei, beabsichtigte jener
Verseschmied des letzten Hávamálteiles nach Wortgebrauch und
Satzbau nicht anzugehen. ( ... ) Quelle: www.oding.de
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Edda, Die Lieder des Codex Regius, Heidelberg 1983, S. 17-44 -
Ivar Lindquist, Die Urgestalt der Hávamál, Lund 1956 -
Klaus Düwel, Runenkunde, Stuttgart 1983, S. 50f u. 104f -
Harry Radegeis, Runen im Leben der Völker, Ardagger 1995/96 - Gerhard Heß, ODING-Wizzod - Gottesgesetz und Botschaft der Runen, München 1993 |