Einst war das Alter, da alles nicht war,
Nicht Sand noch See noch salzge Wellen,
Nicht Erde fand sich noch Überhimmel,
Gähnender Abgrund und Gras nirgend
(Jüngere Edda, 4)
Vor der Schöpfung gab es eine kalte Welt, Niflheim,
ganz Eis und Kälte. Und es gab eine heiße Welt, Muspelheim, ganz Glut
und Feuer, deren Grenze von Surtur mit dem flammenden Schwert bewacht
wurde. Dazwischen liegt Ginnungagap, das geheimnisvolle Nichts, die gähnende
Leere.
Im kalten Niflheim ist der Brunnen Hwergelmir, aus dem
zwölf Flüsse entspringen. Auf der Seite Ginnungagaps, die Niflheim
zugewendet ist, gefriert das Wasser zu Eis, welches sich immer weiter nach
Süden ausdehnt, dem warmen Muspelheim zu, bis Eis und Feuer schließlich
aufeinandertreffen. Daraus entsteht das erste Lebewesen, der Frostriese
Ymir, aus dessen Schweiß noch ein Mann und eine Frau entstehen und der
mit den Füßen zwei Söhne zeugt, so dass er zum Vater des Geschlechts
der Riesen wird. Er ernährt sich von der Milch der Kuh Audumla, die aus
schmelzendem Eis heraus zum Vorschein gekommen ist. Sie selbst ernährt
sich, indem sie das salzige Eis leckt und nach einer Weile leckt sie
daraus den ersten Mann, Buri, hervor, der mit einer Riesin seinen Sohn Bör
zeugt, dessen Söhne wiederum Odin, Wili und We sind, also Wotan, Hönir
und Loki, die ersten drei Asen und zugleich die vornehmsten.
Diese drei Asen erschlagen nun den Riesen Ymir und
bilden aus den Überresten seines Körpers die Welt.
Aus Ymirs Fleisch ward die Erde geschaffen,
Aus dem Schweiße die See,
Aus dem Gebein die Berge, die Bäume aus dem Haar,
Aus der Hirnschale der Himmel.
Aus den Augenbrauen schufen gütige Asen
Midgard den Menschensöhnen,
Aber aus seinem Hirn sind alle hartgemuten
Wolken erschaffen worden.
(Jüngere Edda, 8)
Aus dem Blut des Riesen wird das Weltmeer, das die Erde
umschließt, darin ist die Erde befestigt. Die Hirnschale, die den Himmel
bildet, wird mit vier Hörnern über die Erde erhoben, darunter sitzen die
Zwerge Austri, Westri, Nordri und Sudri. Sie erleuchten den Himmel mit
Feuerfunken aus Muspelheim.
Aus zwei Bäumen werden die ersten Menschen erschaffen,
der Mann Ask und die Frau Embla. Ihre Heimstatt ist Midgard, während die
Burg der Asen Asgard heißt. Von dort beobachtet Odin als oberster Gott
die Welt und Menschheit und zeugt das Geschlecht der Asen; deshalb heißt
er Allvater, weil sowohl Götter als auch Menschen von ihm abstammen.
Die Entstehung der Welt:
Am Angang waren Kälte und Hitze. Auf der einen Seite lag Niflheim
(Nebelheim), voller Frost und Nebel. Auf der anderen Seite lag Muspellsheim
( Heim der Zerstörung, ein Meer von lodernden Flammen; Hinweis auf
Islands Gletscher und Vulkane?).
Zwischen Niflheim und Muspellsheim gab es nichts. Das Nichts bestand aus
einer großen, gähnenden Schlucht, dem Ginnungsgap. Hier in dieser
gewaltigen Leere zwischen Licht und Dunkel nahm das Leben seinen Anfang.
In der Begegnung zwischen Eis und Feuer entstand, geformt von der Kälte,
doch von der Hitze zum Leben erweckt, der Frostriese Ymir, der größte
Riese, der je gelebt hat.
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Das Eis schmolz weiter, und aus ihm entstand eine riesige Kuh mit Euter
und Hörnern, Audhumla genannt. Ihre überreiche Milch floß in mächtigen
Strömen und ernährte den Riesen Ymir.
Sie selbst ernährte sich, indem
sie an den umliegenden salzigen Eisblöcken leckte. Aus einem der Blöckte
leckte sie in drei Tagen einen Mann hervor, der darin eingeschlossen
gewesen war. Er war hochgewachsen und schön, und sein Name war Buri.
Von ihm stammen die Asen ab, das Göttergeschlecht.
Der Riese Ymir bekam Kinder aus sich selbst. Während er schlief schwitzte
er, und unter seinem linken Arm entstanden Mann und Weib. Seine Füße
paarten sich, und ein Sohn mit sechs Köpfen wurde geboren. Er ist der
Ursprung der Geschlechter der Hrimthursen, der Trolle und Riesen,
die auch Jøten heißen (Jotunheimen bedeutet demnach "Heim
der Riesen". Manchmal wird es im Deutschen auch mit "Heim der Götter"
übersetzt, was nicht richtig ist, denn Riesen und Götter sind etwas ganz
unterschiedliches, und die Götter hießen Asen, so daß es, wäre es das
Heim der Götter, "Asheimen" heißen müßte).
Die verschiedenen Geschöfe haben offensichtlich ziemlich lange in Frieden
miteinander gelebt und Kinder miteinander bekommen. Odin, der später
das Oberhaupt der Asen wurde, ist der Sohn der Riesen-Tochter Bestla
und dem Sohn von Buri, Bur.
Doch eines Tages erhoben sich Odin und seine Brüder Vilje und Ve
zum Aufstand gegen Ymir und sein Geschlecht. Es kam zum Kampf, den Odin
und seien Brüder gewannen. Sie töteten Ymir, aus dessen Wunden sich Ströme
von Blut über die Feinde der Asen ergossen, in denen sie fast alle
ertranken. Nur ein Riesenpaar überlebte das Blutbad und flüchtete in die
Nebelwelt. Von ihnen stammen alle späteren Hrimthursen-Geschlechter ab.
Die Asen schleppten den toten Frostriesen in die Mitte der Schlucht
Ginnungsgap, die große Leere, und legten ihn wie einen Deckel über den
Abgrund. Hier erschufen sie aus der Leiche des Riesen die Welt. Sein Blut
wurde zum Meer, sein Fleisch zur Erde, seine Knochen zu Gebirgen und
Klippen, seine Zähne und zersplitterte Knochenreste zu Steinen und Geröll
und die Haare zu Bäumen und Gras. Sein Gehirn warfen sie hoch in die
Luft, wo aus ihm die Wolken entstanden, und seine Schädeldecke bildete
das Himmelsgewölbe. Danach fingen die Götter Funken aus dem heißen
Muspellsheim und setzten sie an den Himmel, wo die jetzt hängen und
funkeln. So entstanden die Sterne.
Aus Ymirs Leiche krochen kleine Würmer, die der Ursprung der Zwerge und
Unterirdischen waren, die in Grotten und Höhlen lebten. Die Asen wählten
vier von ihnen, die die vier Ecken der Welt bewachen sollten. Diese Zwerge
heißen Austre (der östliche), Vestre (der
westliche), Nordre (der nördliche) und Sydre (der
südliche). So bekam alles Ziel und Sinn.
Die Erschaffung der Menschen:
Als Odin und seine Brüder Vilje und Ve einmal am Meeresstrand spazieren
gingen, fanden sie zwei an Land gespühlte Baumstämme. Sie nahmen sie und
schufen die Menschen daraus. Odin hauchte ihnen Leben und Atem ein, Vilje
gab ihnen Verstand und Bewegung, und Ve gab ihnen Antlitz, Sprache, Gehör
und Gesicht. Sie gaben ihnen Wärme und Farbe. Aus den Treibholzstämmen
wurden Mann und Frau. Die Asen nannten sie Ask (Esche) und Embla
(Ulme oder Rebe?).
Von ihnen stammen alle Menschen ab.
Die Entstehung der Zeit:
Am Anfang gab es keine Zeit; alles stand seltsam still.
Aber die Asen gaben der Riesenfrau Natt (Nacht), welche
schwarz wie ihr Geschlecht war, und ihrem Sohn Dag (Tag),
welcher einen Asen zum Vater hatte und schön und strahlend war wie sein
Geschlecht, jeweils ein Pferd und einen Wagen und setzten sie an den
Himmel, so daß sie jeden Tag und jede Nacht um die Welt fahren konnten.
Natt fährt vorweg. Ihr Pferd heißt Rimfakse. Es hat Rauhreif (Rim
= Rauhreif) in der Mähne, und der Tau, der sich jeden Morgen auf
Felder und Wiesen senkt, sind Schaumtropfen aus seinem Zaumzeug. Hinter
ihr fährt ihr Sohn Dag. Sein Pferd heißt Skinfakse, denn aus
seiner Mähne strahlt und leuchtet es (Skin = Schein, Leuchten), so
daß die Luft und Erde erleuchtet wird. Daraufhin wurden auch Sonne und
Mond aus Funken aus Muspellsheim geschaffen und in einen Himmelswagen
gesetzt. Zwei Kinder haben die Aufgabe, darauf zu achten, daß sie nicht
herausfallen und die schnellen Pferde zu lenken. Zwei riesige Wölfe sind
ihnen ständig auf den Fersen und wollen Sonne und Mond verschlingen.
Irgendwann... irgendwann gelingt es ihnen vielleicht.
Die Entstehung der Erde:
Am Anfang war alles Urwald und Einöde. Aber die Asen schufen Lebensraum für
sich selbst und uns. Die Wohnstätte der Menschen nannten sie Midgard
(Mittelwelt), da sie mitten in der Welt liegt. Und damit die
Menschen sich nicht allein und verlassen fühlen sollten, bauten die Asen
im Zentrum Midgards für sich eine gewaltige Götterburg, die Asgard
(Götterwelt) heißt. Mitten in der Burg war der Hügel Idavollen,
und hier bauten sie zwei herrliche Säle: Gladsheim (mit einem Thron für
Odin und die zwölf vornehmsten Asen) und Vingolf (mit einem Thron
für Frigg und die Asinnen). Der vornehmste Saal in Asgard ist jedoch Valhall
(Walhalla), der güldene Saal der Asen und der Einherjer (gefallene
Helden, siehe weiter unten). Die Walhalla hat 640 Türen, von
denen jede so groß ist, daß 960 Einherjer gleichzeitig nebeneinander
hindurchgehen können.
Um nach Asgard zu gelangen, muß man über einen Regenbogen reiten, eine
Brücke aus loderndem Feuer. Auch um Midgard herum wurde ein Schutzwall
angelegt, denn draußen im Wilden und Unbekannten herrschen Dunkelheit und
unheimliche Kräfte.
Hier in Utgard (Außenwelt) und Jøtunheim
(Riesenheim) wohnen die Riesen und Trolle. So hat alles seine
Ordnung - wie die Jahresringe eines Baumes. Und ganz weit draußen, an
allen Kanten, wogt das große Weltmeer.
Es gibt auch Zwerge und Elfen. Sie haben ihre Wohnstätten in Felswänden,
zwischen Felsblöcken und häufig auch im Inneren der Erde an versteckten
Orten in Midgard und Utgard. Zwergen kann man nie so ganz trauen, obwohl
sie tüchtige Schmiede sind; Elfen jedoch sind den Göttern als auch den
Menschen freundlich gesinnt. Zwerge arbeiten nicht gern für die Menschen
oder Götter, und wenn sie einmal dazu gezwungen sind, versehen sie ihr
Werk gern mit einer Art unheilbringendem Zauber, so daß der Besitzer später
wenig Freude daran hat. Die Asen haben all ihre wunderbaren Waffen und Schätze
den Zwergen zu verdanken. Das Land der Zwerge und Elfen wird Alfenheim
genannt. Über Zwerge und Elfen herrscht große Unsicherheit, und man weißt
nicht, ob Alfenheim in Midgard oder Asgard liegt. Einige meinen sogar,
Zwerge und Elfen gehören zu dem gleichen Geschlecht, und daß sie "Schwarzalfen"
(Zwerge) und "Lichtalfen" (Elfen) heißen.
Einst gab es neben den Asen noch ein weiteres Göttergeschlecht, die Wanen.
Sie wohnten in Wanaheim. Ihre Burg wurde jedoch dem Erdboden
gleichgemacht, und heute weiß kein Mensch mehr, wo sie gelegen hat.
Das Zentrum der Welt ist die riesige Weltesche Yggdrasil, die von
den Asen mitten in Asgard gepflanzt wurde. Ihre Wurzeln reichen in alle
Teile der Welt, eine liegt in Asgard, eine in Jøtunheim und eine in
Niflheim. Ihre Zweige überschatten die ganze Welt, und so lange Yggdrasil
grün und fruchtbar ist, wird die Welt bestehen.
In unmittelbarer Nähe einer Quelle in Asgard leben die drei Schicksalsgöttinen
Urd, Wernandi und Skuld. Sie werden Nornen genannt. Die Nornen
spinnen das Garn des Schicksals eines jeden lebenden Wesens und wissen,
wie es jedem ergehen wird (ohne daß sie es beeinflussen können).
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