Tochter der Dunkelheit

(Teil 1 der Serie 'Ruf des Blutes')

Autorin: Tanya Carpenter

Copyright 2007 by Sieben-Verlag Ltd.

Erstausgabe 2007

Verlag: Sieben-Verlag Ltd., 64757 Mossautal

ISBN 978-3-940235-12-1

Broschiert, 356 Seiten

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Fortsetzung in Engelstränen

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Als Melissa Ravenwood dem Geheimbund der Ashera beitritt, hofft sie, mit ihrem bisherigen Leben auch all die Lügen und Intrigen hinter sich zu lassen, die ihre Welt in einem Sekundenbruchteil zum Einsturz gebracht haben. Doch stattdessen wird sie zum Spielball ebenso sinnlicher wie gefährlicher Dämonen: Vampire – wie ihr rätselhafter Geliebter Armand, der Schuld an ihrem Schicksal trägt. Und auch Franklin Smithers, der Leiter des Ashera-Ordens, scheint von düsteren Geheimnissen umgeben, deren Ursprung in Melissas Vergangenheit liegt. Faszinierender Auftakt zu einer neuen Serie aus der Welt der Untoten.

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Leseprobe:

Wer mit dem Feuer spielt

Ich öffnete die Fenster, um die kühle Nachtluft hereinzulassen, damit sie nach der Traumreise meinen Geist klären konnte. Sie strich angenehm über meine vom Duschen noch feuchte Haut. Draußen leuchtete ein fast voller Mond vom klaren Himmel. Ich zündete die beiden großen Kerzen an, knipste das elektrische Licht aus. Dann stellte ich mich vor den Spiegel und begann, meine nassen Haare zu entknoten. Wieder hörte ich Armand nicht kommen. Aber als seine Stimme erklang, durchfuhr es mich wie ein elektrischer Schlag.
„Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst. Dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst.“ Er kam langsam näher, ich sah seinen Schatten bereits im Spiegel. „Die Luft ging durch die Felder, die Ähren wogten sacht. Es rauschten leis’ die Wälder, so sternklar war die Nacht.“ Er stand jetzt hinter mir und hielt mir eine rote Rose vors Gesicht. Zögernd nahm ich sie, woraufhin er seine Hände sanft auf meine Schultern legte und mir im Spiegel tief in die Augen schaute. „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus. Flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.“
Er lächelte mich warm und liebevoll an.
„Das ist wunderschön. Haben Sie das geschrieben?“
„Zuviel der Ehre. Nein, ich möchte mich nicht mit fremden Federn schmücken. Joseph Freiherr von Eichendorff hat dieses Gedicht geschrieben. Das war, glaube ich, 1837. Ein bemerkenswerter Mann. Er hat den Mond sehr geliebt.“
„Das kann ich gut verstehen.“
„Dann lieben Sie den Mond auch?“
„Ja, sehr. Es beruhigt mich, zu sehen, dass Luna über mich wacht.“
„Ah, Luna. La grande mère. Ich denke, Eichendorff hat den Mond mit anderen Augen gesehen. Aber nicht minder verehrt.“ 
„Ich hätte Ihnen gar nicht zugetraut, dass Sie so romantisch sind“, gestand ich und atmete den Duft der Rose tief ein. Ein leises Lachen war die Antwort. Noch immer sahen wir im Spiegel einander an. 
„Ich bin Franzose, chérie. Franzosen sind immer romantisch.“ Er drehte mich zu sich herum, spielte mit einer feuchten Haarsträhne, fuhr die Linie meiner Wangenknochen nach, bis zu meinem Kinn. „Ganz besonders, wenn wir uns in Gegenwart einer so bezaubernden Frau befinden. Sie sind so schön, dass es fast schon weh tut.“ 
Armand streichelte meine Wange, rieb mit dem Daumen sacht über meine Lippen, und ich schloss die Augen. Vampir hin oder her, ich fühlte mich wohl in seiner Nähe. Meine Finger glitten am Stiel der Rose entlang. Ganz plötzlich stach ich mich an einem der Dornen. Erschrocken zog ich meine Hand zurück, sah zu, wie ein einzelner Blutstropfen aus der winzigen Wunde quoll. Ich wehrte mich nicht, als Armand meine Hand ergriff, sie an seine Lippen führte und den Tropfen aufsaugte. Die Spannung zwischen uns war so stark, dass ich kaum atmen konnte.
„Jeden Nachklang fühlt mein Herz, froh und trüber Zeit. Wandle zwischen Freud und Schmerz, in der Einsamkeit.“ Er hielt mich gefangen mit seinem Blick.
„Ist das auch von Eichendorff?“
„Von Goethe. Und Sie, mon amour, erwecken solch einen tiefen Nachklang in meinem Herzen, dass der Schmerz unerträglich ist. Ich fühle mich einsamer denn je, seit ich Sie gesehen habe.“
Benommen blinzelte ich ihn an. War es seine Stimme, waren es seine Augen, war es der sanfte Schein des Kerzenlichts? Oder alles zusammen? Ich hatte das Gefühl, nicht mehr Herr meiner Sinne zu sein. 
„Ich verstehe nicht ganz. Wie meinen Sie das?“
Er richtete sich ruckartig auf und machte eine wegwischende Handbewegung. Die sinnliche Spannung zerplatzte wie eine Seifenblase.
„Ah, oubliez! Vergessen Sie es! In solchen Nächten neige ich ein wenig zu Melancholie. Erinnerungen an alte Zeiten. Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie damit belaste.“
Ich hätte gern noch weiter nachgefragt, wagte es aber nicht. Stattdessen fragte ich: „Schreiben Sie selbst auch Gedichte?“
„Parfois. Manchmal.“
Er sah mich an, geduldig und aufmerksam. Was hätte ich in diesem Moment für seine Gedanken gegeben! „Würden Sie mir etwas über sich erzählen?“, wagte ich mich weiter vor. 
„Sicher.“ 
Ich spielte nervös mit der Rose in meiner Hand. Die Göttin hatte gesagt, er würde mir helfen. Doch auf was für ein Geschöpf ließ ich mich ein, wenn ich ihn um Hilfe bat? 
„Wie ist das, ein Vampir zu sein? Ich meine, diese ganzen Schauermärchen, das hat nur sehr wenig mit Ihnen zu tun?“ Er sah mich fragend an. Offenbar wollte er genauer wissen, worauf ich hinauswollte. Ich seufzte hilflos. „Ich meine solche Sachen wie Verwesungsgeruch und dass Vampire keine Spiegelbilder haben. Das stimmt ja alles nicht. Ich kann Sie im Spiegel so deutlich sehen wie mich selbst. Und nach Verwesung riechen Sie auch nicht.“
Er lachte, aber nicht spöttisch, sondern amüsiert. „Und jetzt fragen Sie sich, wie es mit all den anderen Ammenmärchen aussieht, ja?“ Ich nickte. „Alors, ich verwandle mich nicht in eine Fledermaus und umkreise dreimal den Kirchturm.“
Das wäre mir dann doch auch ein bisschen zu weit hergeholt erschienen.
„Wir Vampire fliehen auch nicht vor Knoblauch. Und man kann uns nicht mit Kruzifixen vertreiben. Im Gegenteil, es zieht uns sogar oft in die christlichen Kirchen. Wir lieben die Atmosphäre dort. Auch Weihwasser kann uns nichts anhaben oder der viel besagte Pflock durchs Herz. Doch durch das Sonnenlicht können wir sterben. Oder durch ein großes Feuer. Aber es gibt kaum mehr, was uns wirklich schaden kann.“
Ich hob mein Gesicht zu ihm und blickte in glitzerndes Grau, kaum eine Handbreit entfernt. 
„Aber Sie fragen sich noch etwas anderes, Melissa, nicht wahr? Sie fragen sich, ob ich ein Wesen bin, dem Sie vertrauen können. Ob ich tatsächlich töte, und wie oft. Ob ich dabei gnädig oder mitleidlos bin. Ein Erlöser für verlorene Seelen oder ein verheerender, grausamer Dämon. Aber spielt das eine Rolle, ma chère, wenn das Ergebnis doch immer dasselbe ist?“
Seine Stimme war Rauch. Er machte mich benommen.
„Vertrauen die Ihnen denn? Diejenigen, die Sie beißen?“ Es war nur ein klägliches Flüstern. Er machte mir Angst. 
„Naturellement“, hauchte er, und sein Atem streichelte meine Wange. Ich spürte, wie sich meine Härchen im Nacken aufstellten – durchaus nicht unangenehm. Mir wurde schwindlig. „Sie alle vertrauen mir, wenn der Todesbiss kommt. Schwelgen in seliger Lust, während ich von ihnen trinke. Macht mich das in Ihren Augen zu einem Monster?“
„Es macht Sie zu einem Mörder.“
Sein Ausdruck wurde eisig. 
„Je ne suis pas un assasin. Das bin ich nicht. Ich bin ein Raubtier, kein Mörder. Jeder Löwe tötet das Zebra, damit er nicht verhungert.“
„Das ist etwas anderes.“
„Nein, ist es nicht. Auch ich töte nur, um zu überleben.“
„Aber Sie töten Menschen.“
„Ah, voilà pourquoi. Darum geht es.“ Zynisch zog er eine Augenbraue hoch. „Ich dachte, der Glaube der Großen Mutter lehrt, dass alle Geschöpfe gleich sind. Und jetzt sagen Sie mir, dass der Mensch etwas Besseres ist?“
Er wartete auf eine Antwort. Lauerte darauf, dass ich einen Fehler machen würde, wenn ich ihm widersprach. „Sterben müssen sie alle irgendwann, mon amour. Der Tod kennt auch keine Gnade. Warum also sollte ich gnädig sein?“
Ich wandte mich ab, und Armand hielt mich nicht fest. Es war ein Fehler gewesen, ein solches Gespräch zu beginnen. Aber jetzt war es zu spät. 
„Es ist trotzdem nicht dasselbe. Sie suchen sich Ihre Opfer gezielt aus, nicht willkürlich, wie der Tod selbst es tut.“
„Das ist nicht richtig. Ich suche nicht gezielt nach diesem oder jenem. Ich gehe auf Jagd. Und jeder, der mir dabei begegnet, kann mein Opfer werden. Oder eben auch nicht, wenn es nicht reizvoll genug ist.“
„Reizvoll?“
Er kam mir wieder nah. Die Augen schmale Schlitze, in denen es gefährlich aufblitzte. Ein plötzlicher Windstoß löschte die Kerzen. In der Dunkelheit leuchtete sein Gesicht unheimlich, umrahmt von der pechschwarzen Seide seines Haares. Er erschien mir wie ein Teufel – aber einer, dem ich nicht widerstehen konnte, so groß meine Furcht auch war. 
„Ah oui, ma chère“, flüsterte er so leise, dass seine Stimme mehr ein Schauer durch meinen Körper war, als dass ich sie wirklich hörte. „Es muss doch ein Reiz dabei sein, finden Sie nicht? Sonst wäre es doch nicht interessant.“
Seine Augen glühten, während er mich fixierte. Ich wich einen Schritt zurück. „Und was genau finden Sie interessant?“
Er schmunzelte. Sein Gesichtsausdruck erinnerte an einen schmeichelnden Dämon.
„Das kommt ganz darauf an, worauf ich Hunger habe.“ Noch einmal musste ich schlucken, aber meine Kehle war so trocken, dass es mir schwer fiel. Unbeirrt fuhr er fort, während er sich mir langsam weiter näherte. Seine Stimme war kaum hörbar, doch ich verstand jedes Wort überdeutlich. „Es kann eine abgrundtief böse Seele sein. Ein Dieb, ein Dealer, ein Mörder, ganz egal. Jemand wirklich Schlechtes, der charakterliche Abschaum der Gesellschaft sozusagen.“ Er neigte den Kopf zur Seite, während er fortfuhr. Sein Gesicht bekam einen Ausdruck vagen Staunens, so als könne er selbst kaum glauben, was er sagte. „Oder aber die reine Unschuld. Ein Herz voller Liebe und Güte wie das einer Nonne oder einer Mutter. Oder ein von Gram und Trauer geplagter Geist. Ein Bettler, ein Obdachloser oder ein einsames Kind.“ Er machte eine Geste des Bedauerns und schaute so unschuldig wie die Gesichter der Heiligen in einer katholischen Kirche. „Wie gesagt, es kommt ganz darauf an.“
Er stand jetzt direkt vor mir, sein geruchloser Atem streifte mein Gesicht. Ich bebte am ganzen Körper.
„Bitte töten Sie mich nicht!“, brachte ich mühsam hervor. Ich konnte seinem Blick nicht länger standhalten. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er es zumindest in Erwägung zog. Und ich wollte ihn dabei nicht ansehen müssen. Aber seine Haltung änderte sich. Er drehte kurz den Kopf in Richtung Spiegel, und die beiden Kerzen flammten auf; tauchten den Raum in ein warmes, sanftes Licht. Er war wieder der charmante, scheinbar ungefährliche Gentleman. Seine kühlen Finger streichelten mein Gesicht wie der Hauch eines Windes.
„Ich werde Sie niemals töten, das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Warum also haben Sie solche Angst vor mir?“
„Eigentlich fürchte ich mich gar nicht so sehr vor Ihnen, Monsieur, sondern nur vor Ihren Zähnen.“
Jetzt war er es, der lachte, aber nicht nervös, sondern ehrlich belustigt. „Dabei haben Sie sie noch nicht ein einziges Mal gespürt. Glauben Sie mir, es ist nicht halb so furchtbar, wie Sie denken. Aber ich werde jetzt nicht den Beweis dafür antreten. Sie brauchen noch Zeit.“