Odem 2 - Die Erwachung

Als ich erwachte, war ich meiner bewusst. Zweifel fielen von mir.
Sie zerfielen wie eine zerdrückte Rose in meiner Hand.
Alle. Nun war ich mir endgültig sicher: Ich war endlich zu dem Wesen geworden, von dem man sagen könnte, es wäre stark, unzerstörbar, mächtig und meinetwegen auch frei.

Mir lief ein Schauer über den Rücken, der sich mit einem merkwürdigem Gefühl verband. Das war wohl die Erkenntnis über die Art meiner jetzigen Existenz. Oder, war es doch die Dankbarkeit? War ich dankbar darüber, das die Zeit des Leugnens, des gottlosen Starrsinns und des eigenwilligen Klagens, endlich ein Ende fand?

Nach den vergangenen Ereignissen, der letzten Nacht, war ich mehr als reif für einen Urlaub.
Ich schüttelte mir die Gedanken aus dem Kopf, stand aus meinem Sessel auf - in dem ich die letzte Nacht und den letzten Tag verbracht hatte -, ging über den weichen Veloursteppich und streifte einige Pflanzen auf meinem Weg in den Garten.
Da stand ich nun, im nassen Gras. Die Luft war frisch und feucht, es hatte gerade geregnet. Ich betrachtete die Nacht, die Bäume und meine Haut, auf der sich noch die letzten Tropfen perlten. Meine Poren öffneten sich.
Dabei fiel mir auf, das ich genau das betrachtete was mir vor der letzten Nacht nicht aufgefallen war.
Ich sah das sich meine Haut verändert hatte, und noch dabei war sich zu verändern.
Sie wurde heller. Von meinem indianischen Aussehen, war kaum noch etwas übriggeblieben. Enttäuschend. Ich sah aus wie eine lebende Leiche. Ich dachte mir nichts weiter dabei. Vielleicht eine Täuschung.

Auch bemerkte ich, das sich meine Sinne deutlich verschärft hatten. Ich hörte Dinge die ich nicht einordnen konnte. Seltsam...
Kurzentschlossen legte ich mich ins nasse Gras, schloss die Augen und lauschte...
Spaziergänger die wie herrenlose Hunde durch die engen Gassen trotteten, tief schlafende Kinder, weinende Kinder in den Häusern. Ich hatte Hunger.
Der Lärm des dichten Verkehrs auf der Golden Gate, schoss durch die Luft und entlud sich, wie eine Gewitterwolke über mir.
Ich atmete tief durch. 
Meine Lungen füllten sich unendlich mit saubrer Luft. Ich biss mir auf die Lippe.
Schlagartig fuhr ich hoch. Ich blutete! Vorsichtig tastete ich meinen Mund ab und fand dieses seltsame raubtierähnliche Gebiss darin.
Ächzenderweise, hastete ich durch das Haus bis ich einen Spiegel fand, der sich für meine Körpergröße eignete und was ich dort vorfand war sagenhaft...

Staunend starrte ich in den Spiegel. Meine Augen waren blau-grau geworden. Kein unschuldiges rehbraun mehr. Sie strahlten Stärke und etwas animalisches aus. Wie eine unbändige Lust am Töten.

Meine helle Haut, die glücklicherweise noch immer gold-braun schimmerte, zog sich noch strammer über meinen Körper, meine Fingernägel hart wie Stahl, waren allseits bereit jeden Gegner wie Klingen eines Dolches zu durchbohren. Ah! Wie ich diesen noch fremden Anblick jetzt schon liebte!
Die Augen weit aufgerissen, hallte mein lautes Lachen an den Spiegel, durch das fremde Haus und wieder zurück. Wo ich jetzt war kümmerte mich noch nicht. Ich fühlte mich frei und unbesiegbar !
Ich zog eine regelrechte Fratze nur um diese Zähne - jetzt die meinen - bewundern zu können.
´Verdammt gefährlich diese Dinger´ schoss es mir durch den Kopf. Natürlich! Ein Vampir hatte solch ein Gebiss, daran hatte ich noch nicht gedacht. Mein Gehirn arbeitete schneller als zuvor, meine Bewegungen waren unmenschlich schneller als zuvor, und meine geistige und körperliche Stärke ebenso. Doch die Erinnerungen der letzten Nacht waren mir fast vollständig entfallen.

Aber ich wurde nachdenklich: Woher kam diese plötzliche Verwandlung? Wer hatte mich zu dem gemacht? Wo bin ich überhaupt? Ist sonst noch jemand hier?

Fragen über Fragen. Werde ich jemals eine Antwort darauf finden?


By Odem