Rosenglanz

(Copyright 2001 by Puck)

Die Wolken zogen sich fester zusammen, verbargen den Mond, als wären sie schweigende Hüter eines unglaublichen, wunderbaren Geheimnisses. Autos verirrten sich in den Straßen der Stadt und Menschen schlichen aneinandergedrückt an den Häuserwänden entlang. Die Luft war warm vom Sonnen-licht der ersten Sommertage, und hinter der Fassade Kiels sangen die Wellen der Ostsee in ihrer eigenen, flüsternden Sprache.

Ich kniete mich zu der Knospe einer dunkelroten Rose. Ihr Parfum stob trotz des verschlossenen Kelches in meine Nase und ließ mich lächeln. Ich roch auch die Erde des Parks und das Gras, wie ich es schon so viele Ewigkeiten nicht mehr empfunden hatte, und ich griff mit beiden Händen in die feuchte, warme Erde des Beetes.

Erinnerungen stiegen auf, an die Blumen im Garten meines Vaters. Wilde Rosen blühten am Rande des Waldstückes hinter unserem Haus. Wilde Erdbeeren wuchsen im Unterholz. Wie lange habe ich ihn nicht mehr auf meinen Lippen gespürt, den Geschmack dieser weißen Erdbeeren? Seit wie vielen Jahren kenne ich nun mehr nur noch das warme, süffige Blut der Sterbenden. Die Göttin bewahrt mich vor dem Zählen.

Bis sie ihn mir wieder zeigte. Sie schlug die Augen auf, als mein Gesicht sich über ihrem befand, und ihre Augen fingen mich, ihr Lächeln zog mich mit sich hinaus in den Garten. Sie hatte mich gefangen, wie nur ein unschuldiges Kind es vermag, den Wolf an sich zu fesseln. Und sie begann mich zu lehren. Nelken standen in ihrem Garten, und Lilien blühten neben dem kleinen Teich. Ein Stück weiter standen Rosen, dieselben wie in meines Vaters Garten davor, ein Leben lang her.

Sie sprach kein Wort, ließ mich nur riechen, und am Ende der Nacht bat sie mich wiederzukommen. Ich kam wieder, und in den Nächten darauf zeigte sie mir so viele Wunder der Welt. All diese Nächte lang konnte ich nicht jagen. Sie war so voller Unschuld und wußte doch, was ich war.

Sie war so alt wie ich es gewesen war, als sie mich zu dem machten, was ich bin, und ihr Körper war weiß wie Elfen-bein.

In ihren Adern floß das Blut in wilder Erregung, sein Rauschen betäubte mir die Sinne. Und dennoch vermochte ich sie nicht zu berühren. Sie sprach nicht wirklich mit mir, formte die Worte einzig mit ihren Lippen, die ich unermüdet zu lesen suchte.

Dann berührte sie mich. Ihr Haar fiel rot wie der Glanz der Abendsonne ihren schneeweißen Nacken herab, als sie die Spange darin löste, und in demselben Augenblick löste sie auch das dünne Band ihres Nachthemdes, das, wie den Fall des Haares fortsetzend, meine Augen mit sich führend, an ihrer Haut hinunter glitt. Ihre Augen waren weit aufgerissen, bevor sie sich schlossen und demütig zu Boden blickten. Ihre Brüste erhoben sich sanft von der glänzenden Ebene zwischen Bauch und Schultern und endeten in spitzen, rosanen Kuppen. Durch die Ebene zog sich wie ein hellroter Fluß eine junge Narbe, die in der zur Hälfte rasierten Scham ihre Quelle verbarg.

Ihre Hände griffen in mein Gesicht und zeigten mir weitere Quellen von Flüssen. An ihren Handgelenken ergossen sich in schorfigem Schwarz noch jüngere, kaum vernarbte Wunden. Blutige Seitenarme flossen an mehreren Stellen auf den Boden zu.

„Ich schaffe es nicht allein.“ flüsterten ihre Lippen. Dann spürte ich die salzige Kruste auf der Zunge, und wie im Traum schlugen sich meine Zähne in ihren Arm. Das Blut trieb sich selbst mir entgegen, und kein Tropfen ward verschüttet auf dem Teppich.

Dann sah ich in ihr Gesicht, einen Moment, bevor sie verging. Ihre Augen waren wie verzerrt von Schmerz und im selben Augenblick erfüllt von tiefer Dankbarkeit. Ich wollte sie gehen lassen. Tränen füllten meine Augen, als ich ihre Hand ergriff. Doch dann, schon vom süßen Atem des Todes umgeben, öffnete sie noch einmal die Augen, und sie sagte: „Nimm mich mit.“

Also nahm ich ihren Kopf und preßte meinen Mund auf ihren. Sie trank ihr eigenes Blut. Die letzte Kraft ihres fast schon toten Körpers nutzte sie zum Schlucken, und von den eigenen, wilden Kräften wieder erfüllt hauchte sie das alte Leben von sich, Raum zu schaffen für das neue, herzschlag-lose Sein.

Ich verschloß die Fenster und Gardinen, legte sie auf ihr Bett und kniete nieder, fast betend vor dem Altar meiner gütigen Göttin, ihr mein Opfer darbringend und dennoch hoffend auf die Vergebung ihrer strafenden Schwester. Einen Tag lang hatte ich warten müssen. Einen Tag lang schlafen, erbebend vor Erregung, den Untergang der Sonne herbei wünschend. Dann kam der Abend, und ich durfte mein Versteck verlassen.

So kniete ich nun hier, betrachtete die Rose in meinen Händen, die Erde in den Rillen der Finger und stieg dann langsam wieder auf meine Füße. Ich wischte den Dreck von Mantel und Hose und roch noch einmal an der verschlossenen Blüte.

Die Wolken zerstoben vor dem Antlitz des Mondes, als sagte er mir: Es ist soweit.

Ich verließ den Park und ging langsam die Straßen entlang bis zu ihrem Haus. Dann öffnete ich die Tür, trat herein und fand sie in ihrem Schlafzimmer , wie ich sie gebettet hatte.

Mit einem letzten, ersten Kuß erhob ich sie zum Leben.