Taedium Vitae

(Copyright 2001 by Odem)

Wie konnte es sein, dass man morgens im Bett auf den Knien, oder nachts vor angezündeten Kerzen, sich mit heiligem Schwur, dem Guten und Lichten verbündete, Gott anrief und jedem Laster für immer Fehde ansagte? Und dass man dann, vielleicht bloß ein paar Stunden später, an diesem selben heiligen Schwur und Vorsatz, den elendsten Verrat üben konnte, sei es was immer es wolle? Warum war das so?

Aber warum war mir, wenn ich nun also kein Auserwählter war, dennoch dieser Trieb nach dem Schönen und Adligen eingeboren, diese wilde, schluchzende Sehnsucht nach Reinheit, Güte und Tugend? War das nicht zum Hohn? Gab es das in Gottes Welt? Und war dann nicht, ja war dann nicht die ganze Welt ein Teufelsspott, gerade wert, sie auszuspucken?
Ach! Und während ich, mit einem Beigeschmack von empörter Wollust diese Gedanken dachte, strafte mich schon mein banges Herz durch Zittern für diese Blasphemie!
Wie deutlich sehe ich nach 105 Jahren dieses Treppenhaus wieder vor mir. Mit den hohen blinden Fenstern, die gegen die nahe Nachbarmauer gehen, so wenig Licht geben mit den weißgescheuerten hölzernen Treppen, den Zwischenböden und dem glatten harthölzernen Geländer, das durch meine tausend sausenden Abfahrten als Kind poliert war. Meine Kindheit war schon so lange her und erscheint mir immer noch märchenhaft und so unbegreiflich. Trotzdem kann ich mich noch sehr genau an das Leid und die Zwiespältigkeit daran erinnern.
Alle diese Gefühle waren damals, in meinem kleinen Kinderherzen gefangen. Die Mutlosigkeit, das Zweifeln am eigenen Wert, die gewöhnliche Lust der Sinne und die welt- oder menschenverachtende Idealität waren schon immer, die unverkennbaren Züge meines Wesens.
Der Sommer hatte begonnen, in zwei heißen Tagen hatte er die Welt verändert, die Wälder vertieft und die Nächte verzaubert. Die Sonne ging schnell unter und sofort folgten ihr die Sterne. Ich lag regungslos auf dem kalten Steinboden und hörte Ihre Schritte nah an mich herantreten.
"Heute, kommst du mit mir." Sie trug keine Schuhe. "Schwach. Drei Nächte lang, nicht die Spur des Blutes auf der deiner Zunge. Du siehst abscheulich aus."
Sie beugte sich zu mir. Ich war schwach, fühlte mich gefangen in meinem eigenen Körper und hatte nicht die geringste Lust zu jagen. Und das schon seit 3 langen Nächten. War ich denn wahnsinnig?
Sie machte sich wirklich sorgen. Ihr Versuch, junge sterbliche auf unser Anwesen einzuladen, um mir damit die Jagd zu erleichtern, schlug fehl. Wie gern wollte ich mich an diesen weichen, schutzlosen Wesen wärmen und sättigen.
Sie kicherte und beantwortete mit runzelnder Stirn meine Gedanken.
"Nicht alle sterblichen sind dumm und lassen sich von einem Ungeheuer wie dir, bei lebendigem Leibe verspeisen". Dieses Kommentar, störte mich nicht Ansatzweise. Ich öffnete den Mund, doch ich war zu schwach um nur einen Laut von mir geben zu können.
"Ich bin hungrig." Die Gier nach weichem warmen Menschenblut loderte in ihren Augen. Die bloße Vorstellung daran, wie das Blut durch ihren Mund in ihren Rachen, und dann in den gierigen Magen läuft um von dort aus jede Faser ihres perfekten Körpers zu erwärmen, zu stärken und zu sättigen, trieb mich in den Wahnsinn. Groll und Reue sammelten sich in meiner Brust, doch ich versuchte die brütende Wärme, das Leben und das Wohlsein, das uns Vampire mit jedem Schluck ereilte, in all meinen Glieder zu spüren. Die stumme Leidenschaft in meinem Kopf, verlor ihr buntes und friedliches Wesen und mehr und mehr rückte das Gefühl zu einer großen dunklen geschlossenen Masse zusammen. Ekel überkam mich.
Sie beugte sich über mich und gab mir einen Kuss. Dann riss mich grob und ruckartig auf die Beine. Zorn brannte in ihr, sie fluchte doch ich verstand kein Wort. Wild rannte sie im Zimmer umher, an der Bücherbedeckten Wand vorbei zur Tür, machte dann kehrt und stieß mich mit einer groben Geste gegen die Wand.
Oh Gott! Eines stand wohl fest, ich ekelte mich vor dieser Art des Lebens und sie ekelte sich vor meinem Selbstmitleid. Mit verschränkten Armen stand sie vor mir. Ihre Blicke waren eine Strafe. Kein Gericht, keine Folter war streng und schwer genug.
Ich stand aufrecht, drückte die Schläfen mit den Daumen und gab mir Mühe zu denken. Es ging mir schlecht mein Kopf war wie aus Glas, ausgehöhlt von Aufregungen, Ermüdung und dem Mangel an Blut.
Ich fühlte mich wie ein toter Vogel, dem ein Kind in die Flügel blies. Mühsam suchte ich nach brauchbaren Erinnerungen, der Tage zusammen in denen alles einen Sinn bekam. Im Grunde war diese Prozedur lästig und ekelhaft.
Mir fehlte das Gleichgewicht meiner Empfindungen, das Einverstandensein mit der eigenen Natur und die vertrauensvolle Hingabe an Wünsche, Träume und Spiele des Herzens.
Langsam lief ich ihr durch den Raum entgegen. Sie saß auf dem Sessel. Stöhnend bohrte ich den Daumen in meine Augenhöhle, wo zwischen Auge und Stirn der teuflische Schmerz saß. Sie beobachtete mich uns flüsterte: "Ekel. Grauen. Übersättigung und Selbstverachtung. Deine monatliche Depression?" Sie hatte wie immer recht. Doch ich ignorierte das.
Die kühle Helligkeit floss in den Raum, über Stühle voll schwarzer Kleider, silberne Gestecke und in ihr Gesicht. Ihr Nacken und ihr weiches dunkles Haar glänzten hell. Es graute der Morgen. In mein abgewandtes Gesicht fiel ein Schatten. Mich überkam ein seltsam, krankhafter Seelenzustand, eine Versuchung, ein wahnsinniges Gelüst, oder wie immer man es bezeichnen wollte. Es war die Vorstellung, einer furchtbaren Bluttat. Sie lachte laut auf und blickte mich mit aufgerissenen Augen an. Gier. Sie war mit Leib und Seele, - sei sie nun vorhanden oder nicht - eine Jägerin. Der Boden knarrte unter ihrem Gewicht.
"Die Zeit wird knapp. Wir müssen gehen, bevor die Sonne aufgeht. Du bist hungrig." Ich nickte.
Sie warf mir einen kurzen Blick zu, rannte durch die Tür und floh dann in die schützende Dunkelheit des Waldes. Ich folgte ihrer Einladung auf dem fuße, getrieben von meiner nächtlichen Gier.

By Odem