Und dabei hatte der Abend doch so gut angefangen

(Von Frédéric)

Fahles, silbernes Mondlicht sickerte durch dicke Wolken und ließ den Friedhof in einer geheimnisvollen Atmosphäre erscheinen. Eine große Eiche warf einen schwarzen, unheimlichen Schatten. In diesem Schatten saß Lucian auf einer alten, morschen Bank. Ein paar Tropfen Blut rannen von seiner aufgeplatzten Lippe das Kinn herunter und tropften in das feuchte Gras, während in seinem Kopf ein dumpfer Schmerz pochte. Er drückte mit der Handfläche gegen seine Stirn, in der Hoffnung, dass der Schmerz nachlassen würde.
„Verdammter Säufer“, dachte Lucian als er einen hasserfüllten Gedanken an seinen Vater verschwand, an den Mann, der ihm das angetan hatte.
„Und dabei hatte der Abend doch so gut angefangen!“

Lucian erinnerte sich, wie er früh am Abend ins „Jekyll and Hyde“, einer 
Gothic-Szene-Kneipe gegangen war. Es war ziemlich voll, da eine Live-Band an diesem Abend spielte: „The Painful End“.
Nachdem er sich umgeschaut hatte, setzte Lucian sich auf einen Barhocker an der Bar.
„Ein Bier“, rief er dem Barkeeper zu.
„Kann ich bitte mal deinen Ausweis sehen?“
Widerwillig holte Lucian seinen Ausweis hervor, entnervt davon, dass er ihn jedes Mal vorzeigen musste, wenn er sich ein Bier bestellte.
„16, okay, ein kühles Blondes, bitte schön.“, meinte der Barkeeper, als er Lucian das Bier reichte und ihn dabei freundlich anlächelte, bevor er sich den anderen Gästen zuwandte.
„Eigentlich ist er ja ganz süß…“, dachte Lucian, während er den muskulösen Oberkörper des jungen Mannes betrachtete. Die kräftigen Oberarme schienen die kurzen Ärmel des durchsichtigen Netztops fast zu sprengen. Doch alle Versuche, die Aufmerksamkeit des Barkeepers durch direkte Blicke auf sich zu ziehen, schlugen fehl und so musste er sich ein anderes „Opfer“ suchen. Langsam ließ er seinen Blick über die Tanzfläche gleiten. Er beobachtete, wie sich die Leute, wie in Trance, zu der dunklen, schweren und balladenartigen Musik bewegten und dabei den Text des Stückes mitsangen. Es sah aus, als ob sie über den Boden schweben würden und ihre Körper durch jeden kleinsten Windstoß schwer ins Wanken gerieten. „Ein wundervoller Anblick“, dachte Lucian, auch wenn bei einem Großteil dieser Menschen Drogen der Grund für diese harmonischen Bewegungen waren. Schon oft hatte man ihm irgendwelchen Scheiß angeboten und leider hatte er auch schon oft angenommen.
„Es macht den Abend viel intensiver!“, „Es erweitert deinen spirituellen Horizont!“, hatte man ihm gesagt, doch von einem Kater am nächsten Morgen, der dir das Gefühl gibt, dein Kopf würde platzen und dein Inneres würde sich nach außen stülpen, hatte keiner ein Wort verloren. 
Das Lied war vorbei. Die Leute standen regungslos da, bis plötzlich ein lautes Dröhnen den neuen Song ankündigte: Schnelle, aufeinander folgende Gitarrengriffe und dazu ein aggressiver, grölender Gesang ließen die Menge hektisch auf und abspringen, wobei sie wie wild die Köpfe hin und her schwenkten. Kaum zu glauben, dass dies dieselben Leute waren, die eben noch so sinnlich getanzt hatten. Lucian blieb von dieser Musik nicht unberührt und ließ seine Finger zum Takt auf sein Knie trommeln, während er immer mal wieder an seinem Bier nippte. In Gedanken versunken, schaute er sich Jungen für Jungen an, hatte auch schon eine nähere Auswahl getroffen, als plötzlich ein Mädchen, ungefähr in seinem Alter, neben ihm an der Bar saß.
„Hey, wie geht’s?“, fragte sie und beugte sich dabei so weit vor, dass man ihren üppigen Busen, der von einem engen Ledertop zusammengeschnürt war, gar nicht übersehen konnte. Diese Art von Mädchen konnte Lucian nicht ausstehen! Sie zogen sich übertrieben aufreizend an, nur um irgendjemandem zu gefallen.
„Ich heiße Melissa“, sagte sie.
„Aha“, meinte Lucian abweisend, um so viel Desinteresse wie es nur ging zu zeigen.
„Hast du vielleicht Lust zu tanzen?“, fragte Melissa hartnäckig.
„Nein, ich glaube lieber nicht.“
„Ach komm’ schon! Warum denn nicht?“, wollte sie wissen und suchte dabei den Blickkontakt zu ihm.
„Tut mir Leid, aber du bist nicht mein Typ“, gab Lucian zu.
„Nicht dein Typ? Wer ist denn dein Typ?“, fragte sie weiter, sich scheinbar nicht bewusst, dass sie soeben einen Korb bekommen hatte.
„Na ja, ich bin schwul“, sagte Lucian und schaute Melissa dabei tief in die Augen. Sie blinzelte ein paar Mal, als hätte sie die Information erst einmal verarbeiten müssen, um sich dann, ohne ein Wort zu sagen, umzudrehen und wegzugehen- wie ein Kind, das das Interesse an einem Spielzeug verloren hatte. Lucian musste, aufgrund dieser Reaktion von Melissa, grinsen und nahm einen Schluck Bier, als er plötzlich einen jungen, gut aussehenden Mann entdeckte. Er stand an einen Stützpfeiler gelehnt im Schatten und beobachtete das Treiben in dem Club. Er war in einen schwarzen Wollmantel gehüllt und seine dunklen, langen Haare hingen ihm vor den Augen. Bei der ganzen Bewegung schien er der einzige zu sein, der still stand. Lucian nahm noch einen letzten, großen Schluck Bier, bevor er sich auf die „Jagd“ begab. Er ging mit langsamen Schritten zur Tanzfläche hinüber, sodass ihn der junge Mann sehen konnte, und fing an, mit ruhigen Bewegungen zu tanzen.
Plötzlich trafen sich ihre Blicke. Lucian lächelte ihn an, um sein Interesse zu zeigen, doch das Gesicht des Gegenübers blieb regungslos. Kein Lächeln, nur ein starrer Blick. Lucian blieb trotzdem hartnäckig, denn sein Gespür, was Schwule anging, hatte ihn noch nie getäuscht. Also tanzte er so verführerisch wie möglich, ohne den Blickkontakt zu verlieren. Doch nach einer Drehung blieb Lucian auf einmal stehen. Verdutzt schaute er sich um: Der junge Mann war urplötzlich verschwunden! Enttäuscht ging Lucian zurück zur Bar. Er nippte in Gedanken versunken, darüber nachdenkend, was er falsch gemacht hatte, an seinem Bierglas.
„Hi.“, hörte er eine dunkle Männerstimme neben sich sagen. Er blickte nach rechts. Der junge Mann schaute ihn mit einem Hauch von einem Lächeln im Gesicht an.
„Darf ich dich auf ein Glas Wein einladen?“, fragte er.
„Gerne“, meinte Lucian und versuchte, so wenig überrascht zu klingen, wie möglich.
„Ich habe dich schon den ganzen Abend über beobachtet“, erklärte der junge Mann und bestellte eine Flasche Chardonnay.
„Übrigens, ich heiße Kain“
„Ich bin Lucian“
Der Barkeeper stellte die Weinflasche und zwei Weingläser auf die Theke.
„Ich habe dich noch nie hier gesehen“, stellte Lucian fest und beobachtete Kain, wie er die Gläser mit dem blutroten Wein füllte.
„Ich halte mich eher zurück, bin gerne für mich, genau wie du.“
Kain reichte Lucian ein Glas und schaute ihm dabei tief in die Augen. Sie stießen an und nahmen einen Schluck.
„Süß“, meinte Lucian und leckte sich einen roten Tropfen von der Lippe und lächelte Kain dabei an.
„Da ist gerade ein Tisch frei geworden, da drüben in der Ecke. Wollen wir uns setzen?“, fragte er und zeigte in die hinterste Ecke der Bar.
„Ja, gerne“
Sie standen beide auf und gingen zum Tisch. Eine Kellnerin räumte eilig die Gläser ab, als sie sich setzten, und verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Eine alte Lampe, die von der Decke hing, tauchte die abseits gelegene Sitzecke in ein schmutziges, goldenes Licht.
Die Zeit flog nur so dahin, während sie sich voneinander erzählten.
„Ich war gerade 15 geworden, als meine damalige Freundin von einem Auto erfasst und getötet wurde. Ich brauchte lange, um darüber wegzukommen. Seitdem bin ich auch… na ja, von da an habe ich angefangen, Schwarz zu tragen“, berichtete Kain.
„Deine damalige Freundin?“, fragte Lucian, versuchte aber nicht verwundert zu klingen.
„Keine Sorge, ich bin schwul. Doch das habe ich dann erst mit Ende 17 festgestellt, also vor knapp einem Jahr“, meinte Kain mit einem Lächeln. 
Lucian schaute auf seine Uhr:
„Tut mir Leid, aber ich muss los. Wenn du möchtest, kannst du mich noch ein Stück begleiten“
Ein kalter, eisiger Wind wehte. Zu kalt für diese Jahreszeit. Kaum waren Lucian und Kain aus der Tür getreten, gefror ihr Atem.
„Mann, ist das kalt!“, stellte Kain fest und zog seinen Mantel enger. Der Mond stand schon hoch am Himmel und vereinzelt schoben sich Wolken davor. Es war kurz nach 22 Uhr.
„Wo wohnst du denn?“
„Zwei Straßen weiter, es ist nicht weit“, meinte Lucian und vergrub seine Hände in den Taschen seiner Daunenjacke. Es war, bis auf das Geräusch ihrer Schuhe auf dem sandigen Asphalt, ganz still. Und keiner von ihnen sagte etwas, um diese wunderschöne Ruhe nicht zu stören.
„So, da wären wir“
Lucian zeigte auf ein kleines Einfamilienhaus.
Kain begleitete ihn bis zu Tür.
„Also dann, ich wünsche dir noch einen schönen Abend“, flüsterte er, beugte sich nach vorn und gab Lucian einen sanften Kuss auf die Lippen. Dann ging er die Auffahrt wieder hinab und verschwand in der Dunkelheit.
Lucian stand einen Moment da, regungslos. Er fühlte sich wohl. Ein Gefühl, welches er recht selten verspürte.
Doch plötzlich wurde er aus seiner kleinen Träumerei gerissen.
Sein Vater öffnete mit einem Ruck die Tür und torkelte nach draußen. Er nahm einen Schluck aus einer halb leeren Whiskyflasche, bevor er zu sprechen anfing:
„Du verdammte Schwuchtel! Hau bloß ab!“, schrie er, leicht lallend.
Der Vater kam zwei Schritte auf ihn zu.
„Vielleicht solltest du lieber nicht soviel trinken!“, meinte Lucian, er wollte gerade an seinem Vater vorbei, ins Haus gehen, als der ihn mit der Faust ins Gesicht schlug. Lucian stolperte und viel die zwei Stufen des Treppenabsatzes hinunter und schlug mit dem Kopf hart auf den Boden auf.
„Werd ja nicht frech!“, schrie der Vater und hielt die Flasche drohend hoch.
Lucian stand leicht benebelt von dem Aufprall auf.
„Ach, leck mich“, sagte er und ging die Auffahrt hinab.
„Du brauchst gar nicht erst wiederzukommen!“, rief ihm der Vater hinterher, doch da war Lucian schon im Dunkeln verschwunden. Er lief zum Friedhof. Der eisige Wind peitschte ihm entgegen, erschwerte das Vorankommen. Die große Eiche konnte man schon von weitem sehen. Lucian stieß das Tor auf und rannte gezielt zu der alten, morschen Bank. Schon oft hatte er hier gesessen, wenn sein Vater mal wieder gesoffen hatte.

Fahles, silbernes Mondlicht sickerte durch dicke Wolken und ließ den Friedhof in einer geheimnisvollen Atmosphäre erscheinen. Ein paar Tropfen Blut rannen von Lucians aufgeplatzter Lippe das Kinn herunter und tropften in das feuchte Gras, während in seinem Kopf ein dumpfer Schmerz pochte. Er drückte mit der Handfläche gegen seine Stirn, in der Hoffnung, dass der Schmerz nachlassen würde.
„Verdammter Säufer“, dachte Lucian als er einen hasserfüllten Gedanken an seinen Vater verschwand, an den Mann, der ihm das angetan hatte.
„Und dabei hatte der Abend doch so gut angefangen!“, dachte Lucian.
Plötzlich hörte er das Quietschen der alten Friedhofspforte.
Kain kam den sandigen Weg entlang, zur Bank.
„Hey“, sagte er leise.
Lucian hatte das Gefühl, als wüsste Kain genau, was eben passiert war.
Wieder war es ganz still. Nur das Rauschen der Bäume im Wind.
Kain setzte sich neben Lucian auf die Bank. Sie schauten sich beide in die Augen. Eine Träne lief Lucian über die Wange.
Sie schauten sich nur an, kein Wort, bis Kain sich vorbeugte und Lucian einen Tropfen Blut von der Lippe küsste.
„Süß“, flüsterte er ihm ins Ohr und nahm ihn in den Arm.
Und Lucian fühlte sich wohl. In Kains Armen konnte er alles vergessen. Und der Wind kam ihm nicht mehr eisig vor, nein, der Wind umwehte ihn nun und hielt ihn warm.