Er

(Copyright by Camilla)

„Es begann alles normal. Ich hatte mich schon lange für Vampire interessiert, ich war fasziniert von ihnen. Viele Menschen verabscheuen sie, doch mir ging es anders. Ich konnte mir jedoch nicht vorstellen, dass es Vampire gab oder dass ich je einen treffen würde. Aber es kam alles anders als ich gedacht hatte. Eine Nacht veränderte mein ganzes Leben. In dieser einen Nacht traf ich ihn. Er nahm mich mit in seine Welt.“ 
Das Mädchen unterbrach ihre Erzählung. Ihre Haut schien im Mondlicht förmlich zu leuchten. Sie war sehr blass. Ihr langes, dunkelbraunes, gewelltes Haar fiel über ihre Schultern und bildete einen Kontrast zu ihrer Haut. Als ich sie getroffen hatte, hatten wir uns sofort gut verstanden und sie hatte begonnen, mir aus ihrer Vergangenheit zu erzählen. Ihren Namen wollte sie nicht verraten. Sie zog ein kleines schwarzes Büchlein heraus. 
„Hier. Das ist mein Tagebuch aus dieser Zeit. Ich führe schon längst keines mehr. Es ist zu viel Zeit vergangen, als dass ich alles hätte aufschreiben können. Doch ich trage es immer bei mir, es erinnert mich an mein erstes Treffen mit ihm.“ Wer er ist, wollte sie mir noch immer nicht verraten. Doch ich nahm das Büchlein an, vielleicht würde es mir mehr erzählen. Das Buch war alt, in Leder gebunden, die Seiten schon verblichen. Ich strich mit der Hand über den Einband. Die Erinnerungen, die in diesem Buch festgehalten waren, durchströmten mich. Es war ein Glücksgefühl, aber auch ein Gefühl der Angst. Ich schlug die erste Seite auf. Die Seiten waren mit einer geschwungenen, engstehenden Schrift beschrieben. Die schwarze Tinte war schon etwas verblichen. Ich sah auf das Datum. Die Einträge waren fast 70 Jahre alt. Das Mädchen zeigte auf einen der Einträge. „Hier. Lies von hier weiter“, flüsterte sie. Ich begann zu lesen:

Mittwoch 
Heute Abend musste ich allein vom Schwimmen zurückgehen, Lisa hat Grippe. Es war schon dunkel. Erst schien alles normal, doch dann passierte etwas Seltsames, das ich mir immer noch nicht erklären kann. Ich war nur noch ein paar Straßen von Zuhause entfernt, als ich eine Gestalt im Gebüsch bemerkte, sie kam auf mich zu. Und dann kann ich mich an nichts mehr erinnern. Alles, was danach passierte, ist wie gelöscht. Ich weiß nicht, was los war. Doch ich fühle mich seltsam, irgendwie ausgelaugt. Zum Glück hat mich meine Mutter noch nicht gesehen, denn ich bin ganz schön blass. Vielleicht bekomme ich auch eine Grippe. Ich muss jetzt ins Bett, ich schreibe morgen weiter.

Sonntag 
Ich konnte leider nicht eher schreiben. Die ganzen letzten Tage war ich krank und zu schwach, um einen Stift auch nur zu halten. Wir waren beim Arzt, doch er weiß nicht, was ich hatte. Es ist echt seltsam. Ich wüsste gerne, was mich krank gemacht hat.
Heute habe ich mir meinen letzten Eintrag noch mal angeschaut. Ich hätte gar nicht mehr an mein Erlebnis gedacht, hätte ich es nicht aufgeschrieben. Ich hatte wirklich anderes im Kopf. Doch jetzt kreisen meine Gedanken die ganze Zeit um die geheimnisvolle Gestalt. Vielleicht war es ja ein Vampir? Aber dann müsste er mich ja gebissen haben. Nein, dass ist wirklich lachhaft. Wahrscheinlich fantasiere ich. Die Nachwirkungen der Krankheit. Ich muss mir wirklich immer wieder sagen, dass es keine Vampire gibt. Meine Mutter ruft, ich muss aufhören.

Mittwoch
Lisa ist immer noch krank und ich musste wieder alleine zurück gehen. Und heute ist wieder die Gestalt aufgetaucht! Und ich kann mich wieder nicht erinnern, was passiert ist! Langsam bekomme ich Angst. Ob ich wieder krank werde?

Donnerstag
Ich bin nicht krank geworden, zum Glück. Doch ich fühle mich trotzdem seltsam. Irgendwie will ich nur noch allein sein. Wenn andere Leute in meiner Nähe sind, bekomme ich schreckliche Beklemmungsängste. Die Schule war eine echte Qual. Ich bin danach sofort auf mein Zimmer gegangen, habe nicht mal etwas gegessen. Was ist nur los mit mir? Ich bin völlig verzweifelt.

Freitag 
In der Schule war es heute nicht mehr so schlimm wie gestern, doch viele haben mich angesprochen, dass ich so blass bin. Ich kümmere mich nicht um sie. Sie wissen eh nicht, wie es mir geht. Sie interessieren mich nicht. Doch ich fühle mich trotzdem nicht gut. Ich habe die ganze Zeit das Verlangen, nach draußen zu gehen, obwohl es schon dunkel ist. Ich muss mich beherrschen! Was würden meine Eltern sagen, wenn sie mich draußen sehen würden?

Samstag
Ich bin gestern Nacht doch noch rausgegangen. Und ich habe die Gestalt wieder gesehen. Wer sie wohl ist? Ich kann mich nicht erinnern, was passiert ist, doch ich fühle mich wieder völlig schwach. Mein Körper scheint eine Hülle zu sein, die ich zu gerne abstreifen würde.

Sonntag
Es ist schrecklich! Ich will raus, doch wenn ich draußen bin, halte ich es einfach nicht mehr aus. Ich fühle mich völlig fehl am Platz. Ich bin ruhelos, kann nicht schlafen, es ist schon drei Uhr nachts. Ich war schon einmal draußen, ich habe die Gestalt wieder gesehen, das Gleiche wie die letzten Male. Ich werde morgen nicht zur Schule gehen. Meine Eltern machen sich schon Sorgen um mich. Sie denken ich werde verrückt. Doch vielleicht bin ich das auch? Wahrscheinlich werde ich wirklich langsam Schritt für Schritt paranoid. Denn was haben all diese Tagträume, die mich immer wieder plötzlich überfallen, sonst zu bedeuten? Ich sehe schwarze Gestalten vor mir, die mich rufen, doch ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Ich würde so gerne zu ihnen kommen! Doch ich schaffe es einfach nicht. Ich bin gefangen in meiner Welt. ‚Wartet’ will ich rufen ‚Wartet auf mich, ich versuche doch zu euch zu kommen’ doch sie entfernen sich immer mehr von mir. Ich muss zu ihnen! 
Ich muss weg, weg von hier. Ich werde noch einmal rausgehen.

Montag
Gott der Finsternis, befreie mich aus meinen Ketten. Nur du, der nachts zu mir kommst, wissend, welche Qualen ich erleide, nur du kannst mich erlösen. Doch warum hast du mich noch nicht geholt? Stellst du mich auf die Probe? Wenn es so ist, wenn es das ist, was ich tun muss, um zu dir zu kommen, dann werde ich warten. Doch ich versichere dir, ich werde jede Probe bestehen. Ich bin deine Dienerin. Ich werde dir auf ewig dienen, wenn du mich lässt. 
Wenn du mich auserwählt hast, dann nimm mich, lass mich nicht weiter leiden. Wenn ich die bin, die dich begleiten darf, dann werde ich es tun, für alle Ewigkeiten. Doch lass mich bitte nicht allein! Ich würde sterben ohne dich! Nimm mich mit, in deine Welt! Bitte! Ich kann nicht mehr warten!

Du musst nicht länger warten. Morgen Nacht, Liebste, werde ich dich holen. Du wirst mich begleiten auf meinen Reisen. Nur noch ein paar Stunden, dann bist du bei mir. Ich weiß, welche Qualen du erleidet hast, doch es ging nicht eher. Wir müssen vorsichtig sein. Ein paar Stunden noch.

Dienstag
Er hat zu mir geschrieben! Er war hier, als ich geschlafen habe! Er hat mich erhört! Endlich, endlich wird es vorbei sein. Endlich werde ich erlöst sein! Doch was wird mich erwarten? Ich weiß nicht wer er ist, ich weiß nur, dass er Gott höchstpersönlich ist. Oder der Teufel?

Das war der letzte Eintrag. Mir drängte sich immer mehr die Frage auf, wer er nun war? Anscheinend auch ein Geschöpf der Nacht. Mit viel Macht. Ich sah das Mädchen an. Ihre Lippen waren gerötet, sie war frisch gestärkt. Sie nahm das kleine Buch wieder an sich und lächelte. 
„Nach meiner endgültigen Verwandlung konnte ich mich wieder an alles erinnern, doch muss ich dir nicht mehr erzählen. Du weißt nun wie ich zu dem geworden bin was ich bin. Er hat mich gesucht und er hat mich gefunden. Wir werden ewig zusammenbleiben. Ewig.“
Das letzte Wort hauchte sie. Ihr Blick ging in die Ferne, ich spürte die Erinnerungen, die sie durchströmten. Sie sah mich an, nur einen kurzen Moment, doch war dieser Blick so intensiv, dass es mich erschauern ließ. Sie stand auf und lächelte mich zum letzten Mal an.
„Ich habe alles erzählt. Ich bin ihm verschrieben, nur ihm. Wir werden uns wiedersehen, da bin ich sicher. Vielleicht erzählst du mir dann deine Geschichte. Wer weiß, was die Zeit bringt. Doch nun muss ich gehen.“
Sie drehte sich um und ihre Füße trugen sie zu den Bäumen am Waldesrand. Sie war gerade bei einem von ihnen angelangt, da rief ich ihr hinterher.
Sie drehte sich um und sah mich aus der Ferne an. 
„Wie heißt er?“
Ich wartete gespannt auf ihre Antwort, doch sie ließ sich einen Moment Zeit. Sie schien zu überlegen, was sie mir sagen sollte. Ein letztes Mal konnte ich ihren Körper, eingehüllt in ein weißes Gewand, sehen. Dann antwortete sie:
„Sein Name ist Dracula“
Und mit diesen Worten verschwand sie.