Club Élysée

(Copyright by Daniel Müller)

Der „Club Élysée“ lag in einem der vornehmsten und angesehensten Gegenden Londons. Es war
einer jener altmodischen Clubs in denen auch so berühmte Männer wie Lloyd George oder
Wellington gesessen haben könnten. Die Gesellschaft, über die ich hier berichteten möchte, setzte
sich aus ähnlich ehrenwerten Herren zusammen. Sie nahmen dann für gewöhnlich in großen
schweren Ledersesseln platz, rauchten Zigarre und tranken den teuersten Whiskey oder Cherry,
während sie über die unterschiedlichsten und oft auch ausgefallensten Dinge philosophierten, die
nur eben jenen reichen Leuten einzufallen pflegen, welche nicht den Tag damit verbringen, ihr
kärgliches Dasein mit harter Arbiet zu erwirtschaften.
Heute war Freitag, und an eben jedem Freitag traf sich die illustre Runde, wie jede Woche. Die
Zusammensetzung war stets die gleiche. Da war zum einen der alte Doktor John V. Huntington,
seines Zeichens Arzt mit gutgehender Praxis, in der er aber nur noch selten Patienten empfing.
Vielmehr liebte er es, sich in seinem Studierzimmer der Forschung zu widmen. Die Natur in ihren
mannigfaltigen Erscheinungsformen hatte es ihm angetan.
Weiter war da noch der aus Prag stammende Professor Milos Topas, ein Mann in den mittleren
Jahren und den besten Karriereaussichten. Er lehrte Geschichte an der Universität und galt als einer
der kühlsten und am logischsten denkenden Köpfe der ganzen Gesellschaft. Stets versuchte er, den
Geheimnissen, von denen sich einige umgeben sahen, auf den Grund zu gehen und zu einer
vernünftigen Erklärung zu gelangen. Das brachte ihm manchmal den Spott seiner Clubmitglieder
ein, die ihn für zu rational hielten. Dennoch, auf irgendwelchen Hokuspokus ließ er sich nicht ein;
das war ihm zuwider.
Als das genaue Gegenteil von Topas hätte man George McLuhan bezeichen können. Er
versuchte sich schon seit geraumer Zeit als Schriftsteller, aber seine Erzählungen wollte kein Verlag
drucken. 'Zu simpel. Zu oberflächlich.' oder 'Einfach unglaubwürdig' waren die meisten Gründe,
weswegen er abgelehnt wurde. Aufgrund seiner blühenden Phantasie war er ein gerngesehener Gast
im Club und ein interessanter Gesprächspartner. Dank seiner großen Erbschaft mußte er sich um
sein Auskommen keine Gedanken machen und konnte sich dem Stil eines echten Lebemannes
hingeben.
Der vierte in der Runde war der schneidige Major Lloyd Grant, hochdekoriert in den Kämpfen
mit den Eingeborenen in Afrika und bei den Unruhen in Indien. Er liebte das Empire und die
Königin, war ein kühner Verfechter von Disziplin, achtete aber ebenso darauf, dem anderen Teil des
Lebens nicht zuwenig Beachtung zu schenken. Jedenfalls wenn man den Anekdoten seiner
Offizierskollegen Glauben schenken wollte.
Ach ja, da wäre ja auch noch ich. Wenn ich mich kurz vorstellen darf: Mein Name ist William
Thomas Foley, Bankier und Börsenmakler. Ich bin Anfang dreißig, verlobt mit einer der schönsten
Frauen des Empires (zumindest glaube ich das) und ein Mann, der sich sowohl in der Welt der
Zahlen hervorragend auskennt, der aber auch gleichfalls den Geist gern treiben läßt, der sozusagen
seine Ideen „schweben“ lassen kann.
Gerade habe ich den „Élysée“ betreten. Francis, der Butler, hat mir Stock und Mantel
abgenommen, sodann setze ich mich an den Tisch mit meinen vier Freunden, die nur auf mich
warten. Wie üblich, begannen wir den Abend mit einer Partie Bridge.
„Haben Sie schon die Zeitung von heute gelesen?“, fragte mich Doktor Huntington, nachdem wir
unsere Bridgepartie beendet hatten. Er deutete mit einem Kopfnicken zu einen kleinen Tisch, auf
dem für gewöhnlich die Drucke des Tages zu liegen pflegen. „Noch ein Mord!“, sagte er, ohne
meine Antwort abzuwarten. „Der Vierte in zwei Wochen. Wenn das so weitergeht, kann man sich
des Nachts kaum mehr auf die Straße getrauen!“
„Er tötet aber nur junge Frauen“, warf Milos Topas ein. „Das dürfte Sie davon ausnehmen.“
„Ja, ja. Spotten Sie nur. Wir werden sehen, was noch alles geschieht. Ich frage mich, was unsere
hochgeschätzte Polizei dagegen tut.“
„Die Morde geschahen stets Nachts“, meldete sich jetzt auch George McLuhan zu Wort. „Das
bedeutet, die Polizei tappt bei den Ermittlungen im Dunkeln.“ Er lächelte. Dies war seine Art, mit
Wortspielen geistreich zu wirken. Jedem war damit einmal mehr klar, weshalb seine Schriften
permanent abgelehnt wurden.
„Vielleicht handelt es dabei um einen Nachahmungstäter?“, kam Major Lloyd Grant in den Sinn.
„Wurde nicht vor kurzem erst ein Serienmörder gefaßt und hingerichtet, weil er ganze acht Leben
auf dem Gewissen hatte? Wer weiß, dieser könnte ein Trittbrettfahrer sein. Zumindest deutet seine
Vorgehensweise darauf hin: Er tötet nur in der Nacht und nur junge Frauen, die er in Seitenstraßen
und schwach erleuchteten Gassen massakriert.“
„Möglich“, wand der Doktor ein. „Aber er könnte das auch nur so machen, um die Fahnder zu
verwirren. Sie damit auf eine falsche Fährte locken.“
„Das dürfte ihm bei unserer Polizei nicht allzu schwer fallen“, sagte McLuhan süffisant. Er
erntete damit die Erheiterung der ganzen Runde und irgendwie hatte er damit das Thema ad acta
gelegt. Keiner wollte eigentlich so recht über diese unangenehmen Dinge diskutieren. Der Sinn
stand mehr nach einem leichten Gespräch, das man auch nach zuviel des exzellenten Whiskey noch
führen konnte, ohne großartig nachdenken zu müssen.
„Ihrer Verlobten geht es übrigens schon wieder viel besser“, versicherte mir der Doktor. „Nur ein
leichtes Fieber; ich habe ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht, sie wird sich morgen gleich viel
wohler fühlen.“ Sarah litt seit einer Woche unter einer schlimmen Erkältung, wie sie in dieser
naßkalten Jahreszeit nicht ungewöhnlich war. Mein alter Freund hatte ihr heute Abend, ich war
noch in der Bank, einen Hausbesuch abgestattet. Jetzt war ich zumindest beruhigt, daß es nichts
ernsteres war.
„Ich danke Ihnen sehr, John“, antwortete ich. Dann, um ein neues Thema anzuschneiden: „Oh,
ich habe im 'Times Magazin' einen faszinierenden Artikel über eine neue Tierart gelesen“, fiel mir
ein. „Irgendeine Fledermausart, die man auf einer Expedition in Südamerika entdeckt hat. Es heißt,
sie sei einem Vampir nicht unähnlich. Zumindest soll sie ähnlich vorgehen. Sie schlägt ihre langen
scharfen Eckzähne tief in den Körper des Opfers und saugt ihm dann das Blut aus.“ Ich kann nicht
genau sagen, weshalb ich ausgerechnet das als neues Thema anschnitt, jedenfalls war es das erste,
was mir einfiel und es schien irgendwie geheimnisvoll zu klingen. Wenn ich nur meinen Mund
gehalten hätte!
„Ja, ja, das ist doch schon längst nichts Neues mehr“, meinte Doktor Huntington. „Eine Art mehr
davon, die in den endlosen Dschungeln da unten lebt. Da gibt es noch mehr davon. Wichtig ist nur,
daß sie von einem Engländer zuerst entdeckt worden ist. Alles andere ist dabei zweitrangig.“
„Meinen Sie, ob es die auch etwas größer gibt?“, fragte McLuhan nachdenklich und in die Länge
gezogen.
„Wie größer? Was meinen Sie damit?“
„Na ja, haben Sie jemals von Menschen gehört, denen man nachsagte, sie stünden unter
Vampirismus?“
„Jetzt hören Sie aber mit solchen Albernheiten auf, guter McLuhan“, ließ sich Topas vernehmen.
Seine allgegenwärtige Logik kam wieder zum Vorschein. „Wir leben an der Grenze zum neuen
Jahrhundert und Sie wollen mir ernsthaft erzählen, daß es Menschen geben soll, die genauso wie
diese Figuren in Büchern zu Blutsaugern werden? Ich bitte Sie.“
„Nun, so habe ich das nicht gesagt. Ich habe nur darüber nachgesonnen, ob es nicht möglich sein
könnte, daß so etwas eventuell doch existiert. Ich sagte nicht, daß es sie gibt.“
„Das kommt doch wohl aufs gleiche raus. Für mich ist das alles purer Aberglaube.“
„Was meinen Sie, Mr. Foley?“, fragte mich McLuhan und sah mir dabei stechend tief in die
Augen.
„Nun“, begann ich vorsichtig überlegend, „rein rational ist so etwas nicht zu fassen, das ist wohl
wahr. Dennoch, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir uns einfach nicht erklären
können, die aber trotzdem da sind. Glauben Sie an Gott?“
„Natürlich“, antwortete McLuhan.
„Sehen Sie! Sie glauben an ihn, haben ihn aber noch nie zu Gesicht gekriegt. Das ist doch etwas
ähnliches.“
„Quatsch, das ist ganz was anderes“, sagte Huntington. „Gott gibt es, weil es so in der Bibel
steht. Vampire findet man nur im Volksglauben oder in dummen Büchern.“ Dabei sah ihn McLuhan
leicht verärgert an. Er war es, der erst kürzlich mit einer Novelle über Vampire bei einem Verlag
vorstellig geworden war, doch wie immer wurde das Buch schnell wieder an ihn zurückgesandt.
Huntington bemerkte dies nicht.
„Was sagt die Historie denn dazu?“, wollte ich von Topas wissen.
„Wie Sie und der Doktor schon so treffend formulierten: Es gibt sie, aber nur im Volksglauben.
In der Hauptsache im slawischen, rumänischen und griechischen. Sie sollen des Nachts ihrem Grabe
entsteigen, um das Blut der Lebenden zu kosten. Zugrunde liegt dem der Glaube an den lebenden
Leichnahm, welcher für Seuchen und Tod verantwortlich gemacht wird. Aber auch die Römer
kannten Lemuren, Geister der Toten, die umherirrten und ahnungslose Menschen anfielen. Man
mußte ihnen opfern, damit sie einen nicht heimsuchten. Aber auch von den Ureinwohnern Afrikas
und Amerikas, ja sogar von den Aborigines in Australien kennen wir derartige Überlieferungen.“
„Das heißt ja, daß Sie quasi auf der ganzen Welt Berichte über Vampire finden können“, staunte
ich ehrlich und goß mir noch etwas Cherry ein. Allmählich fing der Abend an, erquicklich zu
werden. „Wenn dem so ist wie Sie sagen, was ich keinesfalls bezweifeln will, so kann es sich doch
kaum um bloße Zufälle handeln. Völker, die sich nie begegnet sind, glauben an die gleichen
Gestalten der Nacht. Wie ist denn so etwas nur möglich?“
„Oh, möglich ist vieles. Ich sage ja nicht, daß sie überall in gleicher Form auftauchen. Bei den
einen ist es jemand in Menschengestalt, wie wir ihn, ich möchte einmal so sagen, klassisch, kennen.
Bei den anderen ist es jemand in der Form eines Tieres, wieder andere stellen sich vor, daß Vampire
in Seen leben und nicht in Grüften. Manche Kulturen sehen ihn auch nur als Geist, nicht als
körperliches Wesen. Die Griechen betrachteten ihn als Frau, sie nannten ihn Lamia, bei den Slawen
ist er stets ein Mann. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.“
„Aber alle haben doch eines gemeinsam“, meldete sich der Major zu Wort. „Es sind Untote, aus
dem ewigen Schlaf Wiedererwachte, die nur bei Nacht ihr Unwesen treiben können. Und sie
vergreifen sich mit Vorliebe an jungen Mädchen und Knaben.“
„Junge Mädchen! Denken Sie mal nach“, sann der Dichter McLuhan jetzt nach. „Die Morde in
London wurden ebenfalls ausnahmslos an jungen Frauen verübt.“
„Wollen Sie jetzt etwa behaupten, der Killer in unserer Stadt sei ein Vampir?“ Milos Topas sah
in mit zusammengekniffenen Augen durch seine Brille an.
„Wieso denn nicht? Und ich behaupte sogar, es ist derselbe, den man vor einem Monat
hingerichtet hat.“
„Vermutlich ist er wiederauferstanden?“
„Sagen Sie mir ehrlich: Weshalb sollte es nicht so sein? Alle Indizien deuten doch darauf hin.
Die Opfer, die Tatzeit, nämlich immer in der Nacht, und die totbringende Wunde am Hals.“
„Man hat ihnen die Kehle mit einem Messer durchgeschnitten, nicht mit Zähnen.“
„Vielleicht erst danach? Zur Tarnung?“
„Absurd, absurd“, ließ sich Huntington vernehmen. „Aber irgendwie fesselnd. Ach bitte,
sprechen Sie ruhig weiter.“
Auch ich genoß diese skurille Unterhaltung mehr und mehr. Ich lehnte mich weiter in meinen
Ohrensessel zurück und genehmigte mir noch eine kleine Schluck Cherry. Mein Geist begann
sozusagen zu schweben, er wollte fortfliegen und ich mußte ihn festhalten, damit er dem Gespräch
weiter ernsthaft folgen konnte. Es war irgendwie, als wenn man Absinth getrunken hat. Ich hatte
einmal mit Sarah, meiner Verlobten, Absinth zu mir genommen. Es war auf der einen Seite schön
entspannend, auf der anderen aber fast erschreckend, wie einem die Kontrolle über die eigene
Gedankenwelt zu entgleiten schien. Man mußte sich erst daran gewöhnen.
Auch meinem Seelenverwandten, Lloyd Grant, schien es ähnlich zu gehen. Seine Mundwinkel
zogen sich leicht schmunzelnd nach oben, während er dem Gerede aufmerksam lauschte. Er schien
es nicht sehr ernst zu nehmen, betrachtete es wie ich als nette Art, den Abend zu verbringen.
„Was würden Sie tun, wenn Sie einem leibhaftigen Vampir Angesicht in Angesicht gegenüber
stehen würden, Major?“ fragte jetzt der Dichter. „Haben Sie auf Ihren weiten Reisen in ferne Länder
nicht auch von den ungewöhnlichsten Geschichten gehört?“
„Natürlich. Ich meine, natürlich habe ich von solchen Geschichten schon gehört. Kein Zweifel,
der Glaube an Vampire ist weit verbreitet. Sowohl in Afrika wie auch in Indien, wo ich lange Zeit
stationiert war, berichteten mir die Einheimischen von solchen Wesen. Sie gaben mir sogar den Rat,
bestimmte Orte bei Nacht zu meiden, da sich an dieser Stelle eben besagte Geschöpfe herumtreiben
sollen.“
„Und, haben Sie das getan?“
„Nein, ansonsten hätten wir die Aufständischen niemals niederschlagen können!“
Ein allgemeines Gelächter brach aus. Doch irgendwie wollte McLuhan die Sache nicht auf sich
beruhen lassen. Er bohrte weiter. „Ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, daß wir mit unserer
Schulweisheit zwar viele Geheimnisse der Welt genauer erklären können, daß damit aber doch nicht
bestimmte Dinge aufhören zu existieren!“ Er schien jetzt sein Thema gefunden zu haben.
„Nun, es müßte ja erst mal bewiesen werden, daß Vampire existieren. Das steht ja noch aus“,
meinte ich.
„Nun, rein biologisch ist es gänzlich unmöglich“, beteiligte sich Huntington. „Ein Körper ist
entweder tot oder lebendig, so etwas dazwischen, was sagten wir nochmal, Untote, können gar nicht
vorkommen. Das ist wider der Natur.“
„Aber was ist mit diesen Fledermäusen in Südamerika?“, erinnerte uns McLuhan. „Die sind doch
Vampire?“
„Wie Sie das halt nehmen wollen, guter George. Sie verhalten sich vielleicht wie Vampire wenn
es darum geht, Blut zu saugen, aber sie sind doch nur Tiere. Lebende Wesen, die sich wie unsere
Stechmücken von Blut ernähren. Das hat nichts mit Übersinnlichem zu tun.“
„Möglich. Aber sie könnten den Erreger in sich tragen. Wenn sie einen Menschen beißen, könnte
er so wie sie mutieren.“ McLuhan bereitete gerade seine Zigarre vor, indem er das Mundstück
abbiß, was er in Anbetracht des Gesprächs mit besonderem Wohlgenuß zu tun schien.
„Nein, nein und nochmals nein. Sie verstehen nicht. Selbst wenn sie Krankheiten übertragen, so
können sie doch einen lebenden Menschen nicht in ein Fabelwesen verwandeln.“
„Oder in etwas dazwischen eben. Warum soll das alles so vollkommen ausgeschlossen sein? Bis
vor einem guten Jahrhundert glaubte man noch, fliegen sei niemals möglich. Bis die Gebrüder
Montgolfier es mit ihrem Ballon widerlegten.“
„Tataa!“, machte Grant. „Jetzt haben Sie aber selbst der Wissenschaft die Lösung bescheinigt,
nicht der Magie. Wenn dem so ist, wie Sie eingangs sagten, müßte doch irgendeine geheimisvolle
Substanz die Verwandlung im Menschen auslösen, sobald er von dieser Fledermaus gebissen
wurde.“
„Und wenn diese Substanz eben noch nicht entdeckt worden ist? In einigen Jahren, wer weiß?“
„Aber wenn wir vom historischen Stoff ausgehen“, so der Professor Topas, „von den Legenden
der Völker überall auf der Welt, so muß es sich bei besagten Wesen um eben Menschen handeln,
die sich auf übernatürliche Art und Weise verhalten. Sie fliegen durch den Raum, bewegen sich
schneller, als wir sie mit unseren Augen wahrzunehmen vermögen und ein Schuß aus dem Revolver
macht ihnen nicht das Geringste aus. Was für ein Erreger das auch sein mag, ich bin sicher, es gibt
ihn nicht.“
„Nun, Ihnen wird wohl keiner einreden können, es gebe Vampire“, sagte ich.
„Was heißt da 'einreden'“, ereiferte sich McLuhan. „Im übrigen, Major Grant, haben Sie meine
erste Frage noch nicht beantwortet. Was würden Sie tun, wenn Ihnen ein echter Vampir
gegenüberstehen würde?“
„Nun“, begann der Angesprochene langsam und bedächtig, so als wolle er damit besonders
kundig in der Materie gelten, „ich würde meinen Degen ziehen und ihn enthaupten. In den Märchen
hat das immer funktioniert. Oder sollte ich Knoblauch benutzen? Weihwasser? Ein Kruzifix? Was
könnte noch funktionieren?“ Er sah in die Runde.
„Feuer“, antwortete ich.
„Gut“, machte der Doktor. „Oder ein Pflock direkt ins Herz!“ Dabei hielt sich der Major die
Hand an besagte Stelle, so als ob er sich das bildlich vorstellen wollte. „Das sind aber brachiale
Sitten“, kommentierte er.
„Und Teil der Mythologie“, berichtigte McLuhan. „Absoluter Aberglaube, als ob so etwas helfen
könnte.“
„Interessant“, sagte der Doktor, „Sie finden also die Mittel gegen Vampire abergläubisch, den
Vampir selbst jedoch nicht?“
„Ganz recht, lieber Doktor, ganz recht. Mit Ausnahme der Enthauptung und des Pflockes
erscheint mir alles mehr als aberwitzig. Bedenken Sie doch nur: Ein Wesen mit diesen Fähigkeiten
soll sich von etwas Knoblauch abschrecken lassen? Oder von einem vorgestreckten Kreuz? Oder
ein wenig Wasser? Das ist doch lächerlich.“
Der Doktor war indessen aufgestanden, um sich eine Zigarre aus dem Humidor zu holen, welcher
gegenüber unserem Tisch in einem mit Glas versehenem Schrank aufbewahrt wurde. Er stand damit
dem Major und McLuhan mit dem Rücken entgegen, ich selbst konnte ihn nur spärlich aus den
Augenwinkeln beobachten.
Plötzlich erschien mir der Körper meines alten Freundes in seiner Form wie zu verschwimmen,
es sah aus, als ob er teils da wäre, teils aber auch nicht. Irgendwie merkwürdig. Ich schob es wohl
auf den Alkohol und darauf, daß es auf einmal blitzte. Zweimal. So kurz hintereinander wie ich es
noch nie zuvor erlebt hatte. Die beiden Entladungen schienen ineinander überzugehen und doch
zwei an der Zahl zu sein. Ein heftiger Donner setzte ein, dem bald merklicher Wind und Regen
folgten. Außer mir schien niemand die ungewöhnliche Erscheinung wahrgenommen zu haben.
„Da hätte sich das Unwetter also doch noch zusammengebraut“, bemerkte McLuhan und schaute
auf das Fenster, an welches der Regen zu peitschen begann. „So kommt eins zum anderen.“
„Wie meinen Sie das?“, wollte ich wissen.
„Nun, ich meine, unsere Diskussion hier, die paßt sich doch hervorragend der Witterung da
draußen an, nicht wahr? Oder ist es andersherum? Verändert sich das Klima, wenn wir das Thema
wechseln?“
„Sie haben Recht, es ergänzt sich in der Tat erstklassig. Nur glaube ich kaum, daß die Thematik
unserer Unterhaltung Einfluß auf das Wetter hat.“
„Kennen Sie die Redensart, daß man den Teufel nicht an die Wand malen soll? Man soll das
Unglück nicht herausfordern.“ Wieder bemerkte ich dieses tiefe Starren in seinen Auge, während er
mich bei diesen Worten fokussierte. Was hatte er heute nur?
Der Arzt hatte derweil wieder Platz genommen. Er erkannte in meinen Blicken, daß mir etwas
durch den Kopf ging. „Was haben Sie, William?“, fragte er gerade heraus.
„Nichts“, antwortete ich und versuchte, die Erscheinung von eben als Produkt meiner
Einbildungskraft und dem seltsamen Blitzen zuzuschreiben, kombiniert mit einer guten Menge
Cherry. „Ist die Zigarre gut?“, wich ich aus.
Er drehte sie in der Hand und roch an ihr. Dann sagte er mit einem Nicken „Ja, sie ist sogar sehr
gut. Der Tabak ist aus Südamerika, wirklich gut.“
'Südamerika', dachte ich. 'Wo die Fledermaus gefunden wurde.' Himmel, nein, jetzt reicht es
aber. John war einer meiner ältesten Freunde, wir kannten uns schon seit Jahren, und jetzt grüble ich
hier nach, ob er etwas Übersinnliches an sich hat. Dieses Gerede über Vampire bringt einen ja ganz
durcheinander. Das und dieses abscheuliche Wetter da draußen. Ich werde noch ein Weilchen
abwarten und mich dann auf den Heimweg begeben, zu meiner geliebten Sarah.
„Aber lassen Sie uns doch zum Ursprung unserer Debatte zurückkommen“, erinnerte uns Major
Grant. „Wieso, lieber McLuhan, denken Sie, daß der neue Serienmörder zugleich der alte sein kann,
obwohl der gehängt wurde? Wie war das nochmal? Er soll wiederauferstanden sein und treibt nun
erneut sein Unwesen?“
„Nun, ich halte es zumindest nicht für unwahrscheinlicher als die Möglichkeit, eines Tages zum
Mond zu fliegen. Wenn wir davon ausgehen, daß der Strang ihm nichts ausmacht – und davon
können wir in Anbetracht der Überlieferungen ausgehen – dann haben wir denselben Mann nach
wie vor unter uns.“
So ging es noch den ganzen Abend lang. Argument folgte auf Gegenargument, man versuchte,
sich gegenseitig davon zu überzeugen, daß es Vampire gibt beziehungsweise nicht gibt. Mit einem
wohligen Gefühl verließ ich den Club spät in der Nacht, ich glaube, es war wohl gegen halb eins
oder auch etwas später. Das Gewitter hatte aufgehört, der Regen fiel nur noch sacht. Es war doch
recht befriedigend, im aufziehenden Londoner Nebel einsam in der Kutsche nach Hause zu fahren,
zu beobachten, wie sich die Nebelschleier um die Häuserecken legten wie Tücher, um sie
einzuhüllen. Aus den Gullydeckeln drangen Schwaden und wirkten im Zwielicht der schwachen
Gaslaternen wie die Geister Verstorbener. All dies, zusammen mit dem im Club Erörterten sowie
der wohltuenden Wärme des Cherry, bereitete mir gar angenehme Emotionen im Magen.
Endlich kam ich an meinem Hause an. Leise trat ich durch die Eingangstür, ich erwartete nicht,
daß Sarah noch wach sein würde. Die späte Uhrzeit und das von Doktor Huntington verabreichte
Sedativa ließen sie wohl sicher schon tief und fest schlafen. Zu meiner Überraschung stellte ich fest,
daß sie mich bereits erwartete. Sie saß ausgestreckt auf dem Canapee und schien die ganze Zeit nur
auf mich gewartet zu haben. Ein Gefühl der Schuld befiel mich. Nur der Kamin spendete ein
schwaches Licht, die Vorhänge waren zugezogen und in der Luft lag das Aroma nach Veilchen.
„Du bist noch wach?“, sagte ich leise.
„Natürlich“, hauchte sie und kam auf mich zu, legte die Arme um meinen Hals und küßte mich.
Irgendwie schien sie heute anders zu sein, wie verwandelt. Ihre Gesten wirkten verführerisch, aber
in ihren Augen lag eine Kälte daß ich mich fragte, ob dies wirklich meine Sarah war.
„Wie geht es Dir? Was ist mit dem Fieber? Hast Du die Medizin genommen, die Dir Doktor
Huntington gegeben hat?“
„Oh ja“, sagte sie mit auf so seltsame Art, daß ich sie kaum wiederzugeben vermag. Es klang, als
sei sie viel weiter weg, aber gleichzeitig stand sie ja direkt vor mir. „Der Doktor war sehr gut zu
mir. Ich fühle mich ausgezeichnet.“
„Dann ist ja alles in bester Ordnung.“ Ich zog das Geschenk aus der Tasche, das ich für sie
mitgebracht hatte. Morgen war der erste Jahrestag unserer Verlobung. Eine Silberkette mit einem
großen Kreuz als Anhänger. Eine besonders schöne Arbeit, wie mir der Juwelier versicherte. „Ich
habe noch etwas für Dich“, sagte ich und zog die Schachtel aus der Tasche. „Schließ die Augen und
laß Dich überraschen.“
„Ich liebe Überraschungen – Du auch?“
Ich antwortete nichts darauf, wieder kam mir ihre Stimme so merkwürdig fremd vor. Ich wickelte
das Etui aus, nahm die Kette und legte sie ihr an. Ich hatte sie noch nicht ganz geschlossen, da fing
Sarah plötzlich zu schreien an.
„Was ist das? Nimm das weg von mir! Aahhh! Hinfort damit, es schmerzt so!“ Sie riß mir die
Hand weg und das Collier fiel zu Boden. Auf ihrem Dekolltè blieb ein Abdruck des Kreuzes zu
sehen, so als sei es mit einem heißen Eisen eingebrannt worden. Ich begriff die Welt nicht mehr,
was in Gottes Namen geschah hier bloß?
Sarah wandt sich zu mir um, ihre Augen funkelten rot, ihre Zähne traten unnatürlich weit hervor
und sie schien wie unter dem Einfluß einer Droge zu stehen. „Was ist nur los mit Dir?“, begann ich.
„Du brauchst einen Arzt. Ich werde sofort John rufen.“
„Bemühen Sie sich nicht, alter Freund“, erklang es und in der Tür stand Huntington. Ich begriff
gar nichts mehr.
„Sie hier, John? Wie kommen Sie so schnell hierher?“
„Ein guter Arzt weiß immer, wann seine Hilfe benötigt wird.“ Auf einmal erschien mir die
vertraute Gestalt Doktor Huntingtons in ihrer so leutseligen Art bedrohlich, feindlich. Er blockierte
mit seinem kräftigen Körper den Ausgang des Raumes.
„Was geht hier vor?“, sagte ich fest und laut. Meine Gedanken drehten sich, ich war unfähig, klar
zu denken. Ich malte mir das Schlimmste aus, nur nicht das, was gleich geschehen sollte.
„Sie fordern eine Erklärung? Gut, ich denke, Sie haben eine verdient. Beantworten Sie mir
folgende Frage: Glauben Sie an ein Weiterleben nach dem Tod? Ich meine, so wie es uns die Kirche
lehrt?“
„Was? Ja, äh, natürlich“, stammelte ich. Was sollte das? Eine Religionsstunde um diese Uhrzeit
mit meiner Verlobten, die sich wie unter dem Einfluß von Rauschgift verhielt?
„Tatsächlich? Interessant. Doch Sie haben keinen Beweis dafür. Sie wissen nicht, was Sie da
drüben erwartet. Sie wissen nichts, Sie hoffen nur.“ Er trat jetzt langsam auf mich zu, drei Yard
entfernt blieb er stehen, das Licht des Kaminfeuers hüllte seine Silhouette ein. „Ich habe viel von
der Natur gesehen, sie erforscht, mit dem Mikroskop untersucht, seziert. Die kuriosesten Dinge sind
mir begegnet, Tiere und Pflanzen der verschiedenartigsten Coleur. Doch einen Beweis für das
Jenseits habe ich nie bekommen und dabei suche ich ihn schon verzweifelt seit sieben Jahren, seit
dem Tag, als meine geliebte Helen starb. Seit damals bin ich rasend dabei einen Weg zu finden,
dem Tod zu entgehen.“
„Das mit Helen tut mir sehr leid, John. Ich wußte ja nicht, daß es Sie dermaßen...“
Er brach mir das Wort ab. „Leidtun? Ja! Aber sicher! Was wissen Sie schon? Sie haben Ihr
Liebstes ja noch. Oder?“ Bei diesen Worten fuhr es mir kalt den Rücken runter. Instinktiv wollte ich
mich vor Sarah stellen, um sie zu schützen, doch sie war nicht mehr da. Sie hatte sich, ohne daß ich
es bemerkt hatte, in die gegenüber liegende Ecke des Zimmers begeben. Ich postierte mich also so,
daß ich genau in einer Linie zwischen den beiden stand und Huntington erst an mir vorbei mußte,
wenn er sich Sarah nähern wollte.
„John, ich erkenne Sie nicht wieder. Gerade im Club waren Sie doch noch beredt und amüsant,
jetzt scheinen Sie wie ausgewechselt zu sein.“
„Vielleicht habe ich nur meine falsche Maske abgelegt. Hören Sie, William. Ich betrachte Sie
noch immer als guten Freund und als solchen möchte ich Ihnen ein Geschenk machen. Etwas, das
Sie unmöglich ablehnen können. Das Geschenk der Unsterblichkeit.“
„Hör auf ihn, Liebling. Es wäre fatal, wenn Du ablentest.“ Sarah stand wie durch Geisterhand auf
einmal neben mir und flüsterte mir ins linke Ohr. Ich wußte nicht mehr, was hier vor sich ging, ich
wußte nur noch eins: Dies war nicht mehr mein alter Freund John Huntington und auch nicht mehr
meine Verlobte Sarah.
„Sagen Sie mir, Will, warum haben Sie ausgerechnet heute das Thema über den Vampirismus
gewählt? War es nur ein Zufall? Ich glaube nicht, Sie wußten etwas, nicht wahr?“
„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Wieso Vampirismus? Was soll das?“
„Die Jäger der Nacht existieren, sie existieren so wirklich wie es eine Sonne und einen Mond
gibt. Wollen Sie einen Beweis? Bitte sehr.“ Er fuhr an mich heran. So schnell hatte ich noch nie
jemanden sich bewegen sehen, das heißt, bewegt hatte er sich gar nicht, es schien vielmehr, als ob er
zu mir schweben würde. Er packte mich bei den Schultern; dabei zeigte er eine Stärke, die ich bei
ihm nie für möglich gehalten hätte. Der Mann war über sechzig und hatte eine Kraft, wie sie kaum
ein Zwanzigjähriger besitzt! „Was wünschen Sie?“ Er öffnete seinen Mund und ich sah, wie seine
Eckzähne zu wachsen begannen. Erst langsam, dann immer schneller bis sie die Länge von denen
eines Raubtieres hatten. Das war kein Zaubertrick oder eine optische Täuschung, dies war real! Er
wirbelte mit mir herum, wir verließen den Fußboden und schwebten durch den Raum, machten eine
Drehung durch das Zimmer und standen wieder da, wo wir begonnen hatten. „Glauben Sie mir
jetzt?“
Allmählich begann ich, wieder klarer denken. Ich versuchte mich zusammenzureißen, meinen
Geist zu konzentrieren. Die Wirkung des Cherry war längst verflogen, ich mußte einen Ausweg aus
dieser Situation finden. Nur wie?
„Ich genieße es jedenfalls“, hauchte Sarah, die noch immer in der anderen Ecke stand.
„Was ist los mit ihr?“, fuhr ich Huntington an. „Was haben Sie mit ihr gemacht?“
„Sie hatten mich doch zum Hausbesuch gebeten. Ich konnte nicht widerstehen. Sie hat von mir
das Geschenk erhalten, das ich auch für Sie habe. Kommen Sie, Will! Kein Altern, keine Krankheit,
kein Tod! Was wollen Sie noch? Nehmen Sie es an, ich biete es Ihnen nur dieses eine Mal. Seien
Sie doch kein Narr!“
„Von ganzem Herzen nein!“ Mir war zwar noch immer nicht völlig klar, was hier vor sich ging,
aber ich hatte meinen Verstand schon darauf eingestellt, mit meinen Zweifeln an der Existenz des
Paranormalen zu brechen. „Sie sind doch verrückt! Ich werde jetzt die Polizei rufen.“
Der Vampir stieß mich mit einem kräftigen Ruck fort, so heftig, daß ich nichts dagegen
unternehmen konnte. Ich landete auf dem Tisch, der unter mir sofort zusammenbrach. Der Kampf
hatte begonnen. Ich rappelte mich rasch hoch, um mich zu verteidigen.
Huntington war verschwunden, nichts war von ihm zu sehen. Dafür kam Sarah an mich heran,
mit ebensolch schrecklichen Ausbildungen des Vampirismus wie der Doktor. Ihre Zähne funkelten,
ihre Augen blitzten und sie schien sich auf mich stürzen zu wollen. Ich wehrte sie ab, indem ich sie
packte und auf das Canapee warf, während ich mich drehte um ihren Schwung zu nutzen.
„Hör auf, ich will Dich nicht verletzen!“, schrie ich sie an. „Das ist doch Wahnsinn!“ Ich ging
auf die Liege zu. „Bitte, Sarah!“
Sie schien rasend zu sein. Sie sagte etwas Unverständliches, das wie eine fremde Sprache klang,
vielleicht irgendeine slawische oder es konnte auch rumänisch sein. „Los, komm zu mir“, forderte
sich mich jetzt wieder verständlich auf. „Wir wollen für immer eins sein.“
„Nein, was Du brauchst, ist ein Priester. Was immer man Dir angetan hat, es muß von Dir
genommen werden!“
Sie lachte nur kalt. An diesem Abend hatte ich meine geliebte Sarah an die Macht des Dämons
verloren.
Da war Huntington wieder bei mir. Er sah noch schrecklicher aus. Sein Haar war gewachsen,
seine Fingernägel waren mindestens dreimal so lang wie üblich und seine Augen brannten rot wie
Feuer. „Dann wirst du sterben müssen“, sagte er monoton und es klang endgültig.
Bei seinem Anblick war mir schlagartig die Existenz des Vampirs bewußt geworden. Ich zögerte
nicht länger, ihn zu bekämpfen. Ich wollte ihn töten. Dies war nicht mehr John Huntington, dies war
nur noch sein Körper, seine Seele war gefangen und es lag an mir, sie zu befreien.
„Wie sind Sie eigentlich zum Vampir geworden?“, fragte ich ihn.
„Sagen wir einfach, ich hatte vor einiger Zeit eine interessante Begegnung mit der Ewigkeit.“
Dann fuhr er wieder so unglaublich an mich heran, hielt mich fest und drückte mich zu Boden.
Ich konnte mich kaum erwehren. Er zwang mich runter, ich lag auf der Platte des zerbrochenen
Tisches. Da sah ich das Colier mit dem Kruzifix gleich neben mir liegen. Es war in diese Richtung
gefallen, nachdem Sarah es sich heruntergerissen hatte. Es gelang mir mit unmenschlicher
Anstrengung, es zu fassen. Huntington bemerkte es nicht. Er setzte zum Biß in meine Kehle an und
da ich mich nicht mehr wehrte, schien er sicher, das Werk vollenden zu können.
Als er den Mund schon so weit aufhatte, daß ich seinen fauligen Atem riechen konnte, steckte ich
ihm das Colier mit dem Kreuz in den Rachen. Sofort ließ er mich los, fuhr zurück und spie Gift und
Galle. Er schrie laut auf, und seine ganze Scheußlichkeit trat zu Tage, die ich hier nicht in Worte zu
kleiden vermag. Sarah reagierte entsetzt darauf, verkroch sich hinter das Canapee. Beherzt nahm ich
ein abgebrochenes Tischbein auf, ergriff den Nosferatu bei der Schulter und rammte ihm mit einem
Schrei, der mir den nötigen Mut dazu verhelfen sollte, das Holz direkt ins Herz. Wie sehr wünschte
ich mir, daß all die Aberglauben über die Mittel der Vampirbekämpung stimmen mochten!
Der Pflock verfehlte seine Wirkung nicht. Huntington krümmte sich am Boden, zuckte auf und
ab. Da plötzlich schien, da sein Todeskampf dem Ende entgegen ging, sein altes vertrautes Gesicht
zurückzukehren. Es sah aus, als winke er mich zu sich. Ich trat vorsichtig näher.
„William“, röchelte er unter Schmerzen, „in Gottes Namen vergeben Sie mir... Sie haben mich
erlöst. Sie müssen dasselbe mit Sarah tun, nur dann kann sie Frieden finden. Es tut mir so leid. Ich
war ein...“ Er brachte den Satz nicht mehr zu Ende.
Seine letzten Worte klangen noch in meinen Ohren nach. 'Sie müssen dasselbe mit Sarah tun.'
Nein, ausgeschlossen, das konnte ich ihr doch nicht anntun! Niemals!
Wo war sie überhaupt? „Sarah?“, rief ich halblaut. Keine Antwort. Nochmal lauter: „Sarah?“
„Hast du das gleiche mit mir vor?“, klang es von überall her. Ich hörte sie, konnte sie aber nicht
sehen. „Könntest du das ernsthaft?“
„Ich... ich weiß es nicht“, gab ich ehrlich zu. „Wo bist du?“
„Nirgendwo. Ich werde fortgehen. Ich will dich nicht verwandeln, wenn du es nicht selbst
wünschst. Es wäre schön gewesen.“
„Ja, das wäre es...“
Ein Windstoß fuhr durch das Haus, die Tür stand weit offen und ich begriff, Sarah war in die
Finsternis entschwunden. Sie war entkommen, geflüchtet vor mir. Mein Blick streifte nochmal den
toten Doktor Huntington, der jetzt so friedlich aussah. Auf seinem Gesicht lag eine gewisse
Dankbarkeit.
Ich konnte nicht länger in diesem Haus bleiben. Hastig verfaßte ich einen Brief an meinen
Freund, Major Lloyd Grant, in dem ich das Geschehene zu skizzieren versuchte. Ich habe keine
Ahnung, ob er mir je glauben schenken wird oder mich für wahnsinnig hält. Das Schreiben übergab
ich einem Boten, packte einige Dinge zusammen und verließ dann das Haus und London, um Sarah
zu suchen.
Nun, nach Jahren des Umherirrens in ganz Europa, habe ich sie noch immer nicht finden können.
Was die Sache mit dem Serienmörder betrifft, es war, wie sich später herausstellen sollte, nur ein
ganz gewöhnlicher Killer. Man hatte ihn gefaßt und hingerichtet. Es hatte nichts mit Vampiren zu
tun, wie ich herausfand.
Ich habe diesen Bericht verfaßt, um zu warnen. Derjenige, der diese Geschichte liest, soll sie
vorurteilsfrei als wahr und gegeben ansehen. Was geschehen ist, hat sich genau so abgespielt, wie
ich es hier geschildert habe. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun werde, wenn ich Sarah eines Tages
doch finden sollte. Es kann gut sein, daß ich auch sie töte. Es kann aber auch sein, daß ich mich von
ihr verwandeln lasse, auf das wir auf immer eins sind. Sollte ich mich für letzteres entscheiden, so
soll der, der diesen Brief findet, auch mich jagen und zur Strecke bringen. Er wird mir damit einen
Gefallen tun. Gott sei meiner Seele und der Sarahs gnädig!