Vampirtherapie

(von Blackrose)

Dr. Black saß entspannt in einem Sessel, in seiner Hand hielt er eine dieser stinkenden Zigarren, die sein Markenzeichen waren und für die er fast so bekannt war wie für seine ausgezeichnete Arbeit.
Black war 54 Jahre alt, sah jedoch mindestens zehn Jahre jünger aus. Niemand der ihn zum ersten Mal sah, würde ihn für einen Psychologen halten, sondern eher für einen Menschen, der schwere körperliche Arbeit zu verrichten hat. Die engen Hemden, die er trug, betonten seinen muskulösen Körperbau noch, was auch beabsichtigt war. Doch eine Person mit ein wenig Menschenkenntnis wäre wahrscheinlich bei einem Blick in die Augen des Doktors ins Nachdenken geraten, denn diese strahlten eine so unglaubliche Klugheit und Ruhe aus, wie man es selten erlebt. Diese Augen glitten jetzt durch den kleinen Raum, in dem er sich befand. Nun ja, eigentlich war der Raum alles andere als klein, doch der riesige Tisch in seiner Mitte und die etwa vierzig Personen, die sich um ihn quetschten und sich nun langsam zum Gehen erhoben, ließen das Zimmer optisch einige Nummern schrumpfen. Der Doktor lehnte sich zurück und beobachtete seine Kollegen, die fast alle älter waren als er, obwohl sie ihn zu ihrem Oberhaupt ernannt hatten. Zufrieden blieben seine Augen auf jedem der Anwesenden einen Moment liegen, bis sein Blick auf den einzigen Kollegen fiel, der noch jünger war als er. Als er Smiths Gesicht erkannte, grub sich eine steile Falte in seine Stirn. Er fragte sich erneut, wer diesen Kerl bloß ohne seine Zustimmung eingeladen hatte, und warum er ihn nicht endlich aus der Gesellschaft verwies. Schließlich trafen sich hier nur die besten Psychologen Englands, sozusagen das Non-Plus-Ultra des ganzen Landes, um über wichtige psychologische Themen zu diskutieren und gemeinsam Probleme zu lösen, falls einer nicht mehr weiter wusste. Alle Anwesenden bearbeiteten hauptsächlich Fälle, an denen andere kläglich gescheitert waren, und das mit großem Erfolg. Und dieser junge Stümper gehörte ganz sicher nicht hierher. Der Doktor merkte selbst, wie albern sein letzter Gedanke gewesen war. Smith gehörte natürlich zu ihnen, er war genauso begabt und begabter als viele der anderen und er hatte sowohl bei diesem als auch bei vorangegangenen Treffen bewiesen, dass er ganz gewiss alles war, nur kein Stümper. Doch aus einem ihm selbst unerklärlichen Grund hatte Black den jungen Kerl, wie er ihn in Gedanken nannte, vom ersten Moment an nicht gemocht. Dabei war Smith immer höflich und bei Weitem nicht so arrogant wie andere in diesem Raum, was Blacks Abneigung, wie er wusste, nur noch alberner machte. Also versucht er sich nichts anmerken zu lassen, als Smith jetzt zu Ende der Versammlung langsam auf ihn zukam, während sich der Raum leerte. "Entschuldigen Sie bitte, Sir, darf ich einen kurzen Augenblick Ihrer Zeit in Anspruch nehmen?" fragte er mit einem freundlichen Lächeln. "Ich habe Schwierigkeiten mit einem meiner Patienten und würde gern ihren Rat hören." In Black kochte Wut hoch, und die Tatsache, dass er nicht wusste, warum, machte ihn noch wütender. Er riss sich zusammen. "Setzen Sie sich. Aber hätten Sie das nicht eben zur Sprache bringen können?" Der junge Psychologe warf ihm einen schnellen Blick zu, der ihm deutlich machte, dass Smith seine Gedanken erraten hatte. Die bloße Anwesendheit des jungen Mannes mit dem dunkelblonden Haar und den giftgrünen Augen trieb ihn zur Weißglut, und weil der Doktor sich diese Gefühle nicht erklären konnte, wuchs seine Wut zu regelrechtem Hass. Er inhalierte tief den Rauch seiner Zigarre und blies ihm den Rauch ins Gesicht, was diesen jedoch nicht zu stören schien. Er tat ihm nicht einmal den Gefallen zu husten oder wenigstens die Nase zu rümpfen. Black seufzte. "Also, bitte, machen Sie, ich habe heute noch eine Verabredung." Er beobachtete Smith, der mit einer eleganten Bewegung in dem Sessel ihm gegenüber Platz genommen hatte. Ihm fiel trotz seiner Ablehnung auf, dass er wirklich gut aussah, die weiße Haut des Gesichts war makellos und seine Lippen waren rot und voll, nicht so dünn und blutleer wie seine eigenen. Er merkte erst, dass er das Gesicht des jungen Mannes regelrecht anstarrte, als dieser leicht den Kopf drehte und ihm einen verunsicherten Blick zuwarf. Schnell wandte er sich mit großem Interesse dem Gemälde rechts von ihm zu. Der Kollege atmete auf und begann zu erzählen. "Also, es geht um einen Mann, den ich auf Ende zwanzig schätzen würde, der vor ein paar Wochen das erste Mal zu mir kam. Er fiel mir gleich durch seine durchgehend schwarze Kleidung auf, die aussah, als wäre vor ein paar hundert Jahren in Mode gewesen. Die ersten Probleme kamen dann, als ich seine Personalien aufnehmen wollte und ihn nach seinem Geburtsdatum fragte. Er behauptete, dass er im Jahre 1502 geboren ist, also vor knapp 400 Jahren. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, erklärte er, dass genau das der Grund seines Besuches sei, er sei unsterblich und hätte gern von mir einige Dinge dieser Zeit erfahren, da er langsam den Anschluss verlöre. Er spricht das Englisch, das wohl vor etwa 400 Jahren üblich war. Seither habe ich mir von ihm seine Lebensgeschichte erzählen lassen, zumindest den Anfang davon. Er ist davon überzeugt, dass er mit 27 Jahren von einem Vampir gebissen worden ist und seitdem nicht mehr altert und unverwundbar ist."
Der Doktor hatte mit wachsendem Interesse zugehört. Als Smith sich jetzt unterbrach und ihn fragend ansah, hatte er seine Abneigung fast vergessen. Die melodiöse Stimme des jungen Psychologen hatte ihn eingelullt. Jetzt kamen seine Gefühle jedoch noch stärker wieder zurück. Er zuckte mit den Schultern. "Vampirfanatiker hatte ich auch schon einige. Ich habe sie auch erstmal reden lassen, sie haben sich nach einiger Zeit in Denkfehler verstrickt, wenn man sie darauf aufmerksam macht, sind sie häufig ganz von allein darauf gekommen, dass sie sich etwas einbilden, Diese Methode müsste ihnen eigentlich auch geläufig sein." Smith wurde etwas lauter, als er antwortete. "Natürlich kenne ich sie, Doktor, es gibt da nur ein Problem." Er holte kurz Luft und fuhr dann wieder ruhiger fort: " Die Denkfehler sind das Problem, Sir. Es gibt sie nicht. Ich habe mir die Kassetten mit unseren Gesprächen immer wieder angehört, habe jedes noch so kleine geschichtliche Detail überprüft... es stimmt alles. Es gibt keine Fehler."
Der Doktor schnaubte. „Es muss welche geben, kein Mensch kann sich ein ganzes Leben ausdenken, ohne Fehler zu machen. Wenn Sie sie nicht finden, sind sie unfähig.“ Der junge Psychologe fuhr leicht zusammen. Diesmal schien Black ihn wirklich verletzt zu haben, wie dieser zufrieden feststellte. Doch anstatt etwas zu erwidern, griff Smith in seine Tasche. Einen Moment lang erwartete Black ernsthaft, er würde eine Waffe hervorholen, doch als Smith sich wieder aufrichtete, hielt er einen Aktenordner in der Hand. „Hier, bitte lesen Sie es. Das sind die Protokolle der ersten drei Sitzungen. Bitte, Sir, finden Sie einen Fehler, und mag er auch noch so klein sein, ich bin am Ende meiner Kraft angelangt.“
Black schaute ihn erstaunt an. So ein offenes Geständnis hatte er nicht erwartet. Er nickte zögernd. „Nun gut, kommen Sie am Mittwoch in meine Praxis, bis dahin müsste ich es gelesen haben.“ Eigentlich hätte ich ihn auch für morgen bestellen können, dachte er. Seine Neugier war geweckt. Er würde wahrscheinlich die ganze Nacht hindurch lesen. Doch das würde er Black nicht zugestehen. Also steckte er betont gelangweilt die Akte ein und streckte mit einem leisen Seufzer die Beine aus. „Ist das dann für heute alles?“ fragte er. „Ja, Sir, ich danke Ihnen.“ Smith stand auf und verneigte sich leicht. „Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht, Sir.“ „Ihnen auch.“ brummelte Black, doch seine Stimme verriet, dass er am liebsten etwas ganz anderes gewünscht hätte. Falls Smith dies aufgefallen war, versteckte er es meisterhaft. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ den Sitzungssaal. Black sah im nachdenklich hinterher. Was hatte dieser Kerl bloß an sich, dass er es fertig brachte, ihn so aufzuregen? Vielleicht war er ja einfach nur eifersüchtig auf Smiths Jugend oder sein gutes Aussehen? Eher unwahrscheinlich. Aber was war es dann? Immer noch grübelnd löschte er schließlich das Licht, schloss die Tür und ging nach Hause. Im Gegensatz zu dem, was er Smith gesagt hatte, hatte er nichts mehr vor. 
Seine Frau schlief schon, doch das brennende Licht im Schlafzimmer zeigte ihm an, dass sie auf ihn gewartet hatte. Er zog seinen Morgenrock an und setzte sich in sein Arbeitszimmer, um die Akte zu lesen. Er war begierig darauf vor allem sich selbst Smiths Unfähigkeit zu beweisen. Es musste Fehler geben, niemand war in der Lage, sich ein vierhundertjähriges Leben auszudenken. Die erste Seite war ein lose hineingelegter Zettel, auf dem eine kurze Nachricht von Smith geschrieben stand.
„Sehr geehrter Kollege, ich danke Ihnen noch einmal herzlich, dass sie mir helfen wollen, auch wenn wir nicht die besten Freunde sind. Bitte glauben Sie mir, dass ich kein noch so kleines Detail verändert habe, ebenso wenig wie ich irgendetwas ausgelassen habe. Dieses Gespräch hat ganz genauso stattgefunden, wie ich es hier niedergeschrieben habe. Smith“ 
Black runzelte gereizt die Stirn. Was wollte ihm dieser Spinner denn nun schon wieder sagen? Er warf den Zettel zielsicher in den Papierkorb. Immerhin hatte er jetzt Gewissheit darüber, dass Smith von seiner Antipathie wusste. Nicht, dass er daran vorher gezweifelt hatte, so naiv war der junge Psychologe wohl doch nicht. Obwohl er etwas verwirrt zu sein schien, warum sollte er glauben, dass Smith sich etwas ausgedacht hatte?
Er las die erste der Zeile der Personalien und stockte. „NAME: Paul Robert Louis Black.“
Das also hatte der Spinner gemeint. Paul Robert Louis Black, geboren am 10.12.1502. Wie in Trance erhob er sich und ging zu dem großen Bücherregal. Er merkte, dass seine Hände zitterten, als er nach dem schwarzen Band griff, der ganz rechts in der obersten Reihe stand. Die Geschichte seiner Familie, Stammbäume und eine kurze Notiz zu jeder Person. Die Blacks gab es schon seit vielen hundert Jahren. Er blätterte ein wenig, dann fand er, was er suchte. „Paul Robert Louis Black, geb. 10.12.1502“ Sein Magen krampfte sich zusammen, als er das fehlende Todesdatum bemerkte. Schnell las er die Notiz. „…mit 27 Jahren spurlos verschwunden, auch die jahrelange Suche seines Sohnes brachte kein Erfolg.“ Black verfolgte den Stammbaum. Wieder erschauderte er. Der Mann, der damals verschwunden war, war ein direkter Vorfahre von ihm. Wut loderte in ihm hoch wie ein Feuer. Woher kannte dieser Mistkerl solch ein Detail aus seiner Familiengeschichte? Mit einem Knall schlug er das Buch zu. Ein erschrockener Schrei ertönte aus dem Schlafzimmer. Seine Frau war aufgewacht. Schnell stellte er das Buch zurück. Woher wusste Smith, dass vor so langer Zeit ein Mitglied seiner Familie verschwunden war? Dass er es nicht von dem Verschollenen erfahren hatte, war selbstverständlich. Seine Frau steckte den Kopf durch den Türspalt. „Paul, ist alles in Ordnung?“ Black nickte, wagte aber nicht, sie anzusehen. „Ja, Liebling, gehe nur wieder ins Bett, ich habe noch zu tun.“ Seine Frau nickte nur und verschwand. Black wartete einen Moment, dann wandte er sich wieder der Akte zu. Er würde diesem Möchtegern- Kollegen schon zeigen, dass er sich nicht zum Idioten machen ließ.
Mehrere Stunden später riss ihn seine Frau aus dem konzentrierten Brüten, in das er versunken war. Sie fand ihren Mann in der schlechtesten Laune, die sie je bei ihm erlebt hatte. Er fuhr sie an, er wolle nicht gestört werden, also ließ sie ein Küchenmädchen das Frühstück hochbringen.
Als er sich bis zum späten Abend nicht gezeigt hatte, fasste sie sich ein herz und betrat sein Zimmer. Die kleine Leuchte auf dem Schreibtisch tauchte den Raum in ein unheimliches Dämmerlicht. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie stieß einen spitzen Schrei aus. Der Kopf des Doktors lag auf seinem Schreibtisch, er schlief. Hinter ihm stand ein Mann. Sein Gesicht wurde von einem Hut mit breiter Krempe in dunkle Schatten gehüllt. Was er jedoch nicht versteckte, war der leicht geöffnete Mund, die strahlend weißen Zähne blitzten auf, als er bei ihrem Schrei ruckartig den Kopf hob. Eine Sekunde lang starrte sie ihn an. Sofort fielen ihr die Eckzähne auf. Sie waren fast doppelt so lang wie bei jedem anderen Menschen. Ihr Geschrei wurde noch lauter. Mit einer Schnelligkeit, die nichts menschenähnliches mehr hatte, lief der Mann durch das Zimmer und sprang aus dem Fenster. Der letzte Gedanke, der Mary Blacks Gehirn erreichte, bevor sie in Ohnmacht fiel, war, wie jemand so dumm sein konnte, aus dem Fenster des dritten Stockes zu springen. Dann wurde ihr schwarz vor den Augen. 
Ihr Mann war von dem Lärm aufgewacht. Er brauchte mehrere Minuten, um sie wieder zu wecken, und noch mal fast eine halbe Stunde, um aus ihrem Gestammel einen Sinn zu verstehen. Er brachte sie ins Schlafzimmer und überließ sie der Pflege der Zimmermädchen, dann hastete zum Fenster seines Arbeitszimmers. Auf der Straße war nichts. Er hatte eine Leiche erwartet, aber er sah nicht einmal einen Blutfleck im Schein der Laterne. Er sah sich im Zimmer um. Er herrschte ein totales Chaos. Überall flatterten die Blätter aus Smiths Akte. Außerdem lag das schwarze Buch mit der Familiengeschichte auf dem Fußboden, die alten Seiten waren zerfetzt und im ganzen Raum verteilt. Dabei war er ganz sicher, das Buch zurückgestellt zu haben. Schnell begann er, die Blätter einzusammeln und auf dem Schreibtisch zu stapeln, dann eilte er zurück in das Schlafzimmer um seinen Mantel zu holen. Er würde Smith zur Rede stellen, und zwar sofort. Er hatte gerade seinen Revolver aus dem Nachttisch genommen, da klingelte es an der Tür.
Er rannte die Treppe hinunter und riss sie auf. Vor ihm stand Smith. Er war völlig durchnässt und sah noch dazu ziemlich aufgelöst aus. „Entschuldigen Sie, Sir, ich will nicht stören, aber es geht um…“ „Sparen Sie sich Ihr Gesülze!“ brüllte Black ihn an. Er zog den Revolver aus der Manteltasche. Erschrocken fuhr Smith zurück. Mit einer wedelnden Handbewegung befahl Black ihm, hineinzukommen. „Was glauben Sie eigentlich, wer sie sind? Erst brechen Sie hier ein, und jetzt kommen Sie schon wieder hier an? Wissen Sie, was meine Frau für einen Schock bekommen hat? Ich werde Sie dafür zur Verantwortung ziehen. Na, sind Sie etwa erstaunt, dass ich Sie durchschaut habe? Sie glauben wohl, ich würde ihnen die Vampirgeschichte abkaufen, was?“ Polterte Black, während er Smith die Treppe hinauf scheuchte. Er riss die Tür zum Schlafzimmer auf. „Ist das der Mann, den du gesehen hast?“ herrschte er seine Frau an. Diese starrte Smith nur einen Moment an, dann stammelte sie: „Die Eckzähne…“ und fiel wieder in Ohnmacht. „Er war schon hier?“ fragte Smith entsetzt. „Ich wollte Sie warnen, er hat mit einen Brief geschrieben, in dem stand dass er sie besuchen wollte… Oh mein Gott.“ Seine Stimme brach. Er musste erst einmal schlucken, bis sie ihm wieder gehorchte. „Bitte, Sir, was ist geschehen?“ Der Doktor steckte den Revolver wieder weg. Smith Entsetzen war nicht gespielt, das spürte er. Er wies ihm den Weg in sein Arbeitszimmer. Dort setzten sie sich und der Doktor erzählte. Smiths Gesicht wurde immer fassungsloser. Als Black geendet hatte, holte er hörbar Luft. „Es tut mir Leid, Sir, dass ich Sie und ihre Frau da mit hineingezogen habe, ich hatte keine Ahnung, dass er sogar für seinen Namen einen historischen Hintergrund hat, ich hielt es für einen Zufall…“ Nach einem kurzen Moment fügte er hinzu: „Dieser Mann muss unglaublich intelligent sein.“ Black nickte stumm. „ Ich habe auch keinen einzigen Fehler im Protokoll gefunden.“ Gab er schließlich zu. Smith seufzte. „Ich bin am Ende meiner Fähigkeiten. Was machen wir denn jetzt?“ Black wusste keine Antwort. Nach ein paar Minuten sagte er, nur um das drückende Schweigen zu brechen: „Aber wir müssen schnell handeln, der Kerl scheint nicht so ungefährlich zu sein, wie wir annahmen.“ Er beobachtete, wie Smith sich erhob und an das Fenster trat. „Wie kann ein normaler Mensch diesen Sprung ohne ernstere Verletzungen überleben?“ fragte er und sah hinunter auf die Straße. Black schauderte. Schließlich fuhr der junge Psychologe fort: „Er kann kein normaler Mensch sein.“ Black schaute ihn verwirrt an. „Was soll der Unsinn? Natürlich ist er ein normaler Mensch, oder wollen Sie vielleicht behaupten, er sei tatsächlich ein Vampir?“ Smith wandte sich ein wenig zu ihm um. „Was sagt uns, dass es keine Vampire gibt? Die Tatsache, dass wir noch keine gesehen haben? Was, wenn sie doch existieren?“ Black verschluckte sich vor Schreck. „Sind Sie vollkommen übergeschnappt?“ hustete er. „ Wenn Sie solche Märchen glauben, wie sind Sie dann Psychologe geworden? Glauben Sie alles, was ihre Patienten erzählen? Wenn einer kommt und ihnen sagt, er ist ein Kanarienvogel, stimmen Sie ihm dann zu?“ Smith musste lachen. „Natürlich nicht, Sir, ich habe ja den Beweis, dass er es nicht ist, schließlich hat er keine gelben Federn. Aber unser Patient hat lange Eckzähne und schläft in einem Sarg, also was sagt uns, dass er kein Vampir ist?“ Black konnte nicht glauben, was er da hörte. „Aber sicher doch, und sie glauben natürlich auch, dass er vierhundert Jahre alt ist?“ „Seine Lebensgeschichte ist vielleicht deshalb fehlerlos, weil sie wahr ist.“ „Unfug!“ fuhr Black dazwischen. „Sie können doch nicht ernsthaft so etwas glauben?“ „ Ich habe es nicht geglaubt, aber jetzt… ich weiß nicht recht…“ Black holte aus um ihm zu widersprechen, doch ihm blieben die Worte im Halse stecken. „Und du solltest auch endlich anfangen, daran zu glauben, mein Junge!“ Entsetzt starrte Black seinen Kollegen an, der lächelte und dabei zwei lange, spitze Eckzähne entblößte. 
†††
Mit einem Schrei fuhr Black aus seinem Schlaf. Kerzengerade saß er in seinem Bett. Er war nass geschwitzt und zitterte. Was für ein seltsamer Traum, dachte er und stand auf, um sich im Badezimmer das Gesicht abzuwaschen. Wie war er nur in das Schlafzimmer gekommen? Er konnte sich nicht erinnern. Wahrscheinlich war er über der Akte von Smith so müde geworden, dass er sich gerade noch im Halbschlaf ins Bett geschleppt hatte. Er trug sogar noch seinen Morgenrock an. Smith ein Vampir. Er schüttelte den Kopf und musste lächeln. Langsam schien ihn seine Arbeit doch zuviel zu werden. Im Flur ließ ihn ein Luftzug schaudern. Er hatte wohl vergessen, das Fenster im Arbeitszimmer zu schließen. Um dies nachzuholen, betrat er den Raum. Das Fenster stand tatsächlich sperrangelweit auf. Er warf einen Blick hinunter auf die dunkle Straße. Erneut fuhr eine Windböe durch das Haus und ließ hinter ihm im Zimmer Papier rascheln. Er hatte wohl auch die Akte nicht mehr geschlossen und würde morgen alles neu sortieren müssen. Er schloss das Fenster und ging ins Bad. Dort machte er Licht und musterte sein Gesicht im Spiegel. Er war kreidebleich. Wahrscheinlich hatte er sich erkältet, weil das Fenster die ganze Zeit auf gewesen war. Während er sein Gesicht wusch, entdeckte er verdutzt zwei kleine rote Flecken an seinem Hals, zweifellos Mückenstiche. Sie sahen fast aus wie Bissspuren, stellte er mit einem erneuten Lächeln fest. Was hatte Smith in seinem Traum noch gesagt? Er solle endlich anfangen, an Vampire zu glauben? „Wie wahr, wie wahr.“ seufzte eine leise Stimme direkt an seinem Ohr. Black fuhr zusammen und warf einen schnellen blick in den Spiegel. Hinter ihm war niemand. Drehte er langsam wirklich durch? „Aber nein, es ist alles in Ordnung mit deinem Kopf. Aber wenn du mich sehen willst, wirst du dich wohl leider umdrehen müssen. Ich hab nämlich kein Spiegelbild, weißt du?“ Black drehte sich ruckartig um und sah in das bleiche Gesicht von Smith. „Oh nein, mein Junge, mein Name ist nicht Smith. Es ist wohl an der Zeit, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Paul Robert Louis Black.“ Er ergriff die Hand des Doktors und schüttelte sie theatralisch. Dr. Black hatte das Gefühl, eine Leiche zu berühren. „Tja, so ist das, ich hab noch nicht allzu viel getrunken heute, deshalb bin ich wohl noch etwas kühl.“ grinste Smith. Wieder konnte der Doktor seine spitzen Zähne sehen. Dieser Anblick löste ihn aus seiner Starre. Er schrie auf, stieß den Vampir zur Seite und rannte wie von Furien gehetzt los. Mit einem Blick über die Schulter stellte er fest, dass Black oder wer auch immer ihn nicht einmal verfolgte. Er drehte sich um und- lief direkt in seine ausgebreiteten Arme. „Wohin denn so eilig?“ grinste der Vampir. Geistesgegenwärtig machte Dr. Black einen Satz zur Seite und griff nach dem Silberkreuz, an der Schlafzimmertür hing. Er streckte es dem Blutsauger entgegen. Der schlug die Hände vor das Gesicht, stieß gurgelnde Geräusche aus und keuchte: „ Ein Silberkreuz, oh nein, nimm es weg, meine Augen.“ Black wollte gerade erleichtert aufatmen, da packte der Vampir das Kreuz und warf es mit einem boshaften Kichern hinter sich. „Schön, dass du mir jetzt glaubst, dass ich ein Vampir bin, aber, mein Junge, du musst es ja nicht gleich übertreiben. Die Kreuzgeschichten gehören nicht zu dem wahren Kern der Geschichten.“ Er packte den Doktor am Kragen und schleifte ihn immer noch kichernd in sein Arbeitszimmer. „Kreuze, wie putzig.“ Dort ließ er ihn wie einen Mehlsack in einem Sessel fallen. Black wurde vor Angst schwarz vor den Augen. Er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, da versetzte ihm der Vampir eine schallende Ohrfeige, die ihn wieder in die Wirklichkeit riss. „Oh nein,. Du bist vorhin schon ohnmächtig geworden und ich hab dich schön brav in dein warmes Bettchen gebracht, jetzt ist genug geschlafen!“ „Was wollen Sie?“ fragte Black mit zitternder Stimme. „Meine Familie kennen lernen!“ erwiderte der Vampir spöttisch. „Wenn ich richtig gelesen hab, bin ich so etwas wie dein Urururur- und- so- weiter- Opa.“ Er sah sich übertrieben um. „So leb meine Sippschaft also. Wie wundervoll. Zu meiner Zeit war alles noch etwas schlichter. Die Einrichtung ist wirklich entzückend. So einen ähnlichen Schrank hatte ich auch in meinem Arbeitszimmer. Seltsam, ich hätte schwören können, dass Knoblauch in mode gekommen ist, kurz nachdem ich weggezogen war, war unser ganzes Haus voll damit. Hat sich dieser Trend schon wieder gelegt, oder lag es einfach daran, dass mein Sohn ein Vampirjäger geworden ist, um seinen Vater zu vernichten? Er war wirklich ein braves Kind, nicht wahr?“ Black unterbrach ihn. „Was wollen Sie von uns?“ wiederholte er. „Von euch? Nichts, zumindest fast nichts. Ich wollte gern meine niedlichen Enkelchen kennen lernen, doch da mein Sohn in seinem Testament verfügt hatte, dass sie ihr Leben lang von Vampirjägern bewacht wurden, musste ich mich eben ein paar Generationen gedulden, bevor ich wieder zu meiner Familie zurückkonnte. Aber ich muss sagen, hier gefällt es mir unglaublich gut. Ich bin mir sicher, dass meine Familie nach all den Jahren nicht mehr böse auf mein reuevolles Leben schaut und mich wieder mit offenen Armen bei sich aufnimmt? Weißt du, mein Junge, die Gruft, in der ich gelebt habe, ist auf die Dauer etwas baufällig geworden, hier ist es viel netter.“ Dr. Black war entsetzt. „Ich lasse nicht zu, dass Sie hier bleiben, eher werde ich sterben.“ Der Vampir verzog schmerzvoll das Gesicht. „Bitte, lieber Junge, sag doch so etwas nicht.“ Er kam näher und strich Black nahezu sanft über den Hals. Die Berührung kribbelte irgendwie angenehm. Warum sollte der Mann eigentlich nicht bei ihnen wohnen? Er war doch unglaublich sympathisch, natürlich würde er hier bleiben können ... Einen Moment lang brauchte der Doktor, um seine eigenen Gedanken zu verstehen, dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht. Er schrak zusammen. Der Vampir stand wieder ein Stück entfernt von ihm. „Sie Monster!“ schrie Black entsetzt. „Was haben Sie mit mir getan?“ „Nichts. Ich habe dir nur den Wunsch deines Herzens gezeigt.“ lächelte der Blutsauger. „Niemals.“ keuchte Black. Er war zu schockiert, um noch mehr zu sagen. Der Vampir seufzte. „Ich habe nicht ewig Zeit. Wenn ich dich so nicht überzeugt habe, musst du es wohl auf die harte Art lernen. Das tut mir furchtbar Leid für dich. Aber manchmal ist das so im Leben…“er grinste gehässig. Der Doktor fing an zu schreien, als er sich erneut über ihn beugte. Er riss die Arme hoch, doch auf einmal starb seine Furcht genauso wie zuvor seine Zweifel für einen Moment gestorben waren. Er hörte auf, sich zu wehren und streckte dem Vampir seinen Hals entgegen. „Na also, es geht doch.“ flüsterte dieser, und seine Zähne fuhren ganz vorsichtig durch die weiße Haut. Es tat nicht einmal weh, im Gegenteil. Der Doktor schloss genussvoll die Augen.
†††
Als die nächste Versammlung einberufen wurde, wunderten sich die Psychologen, dass ihr Oberhaupt nicht erschien. Noch verwunderter wurden sie, als sie den Brief des Doktors fanden, in dem dieser ihnen erklärte, er sei mit seiner Familie ins Ausland gegangen, sein lieber Kollege Smith solle seine Praxis gemeinsam mit seinem Sohn übernehmen. Dieser Sohn, von dem keiner der Männer jemals gehört hatte, stellte sich ihnen bei der nächsten Sitzung vor, er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, auch wenn er mindestens zwanzig Jahre jünger war, und er hatte eindeutig das Talent seines Vaters geerbt. Scheinbar auch seinen Geschmack, denn die junge Frau des neuen Kollegen war Mary Black wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Praxis der beiden Psychologen lief hervorragend, viele der Patienten mochten die neuen Behandlungsmethoden, die unter anderem vorschrieben, dass nur bei Nacht gearbeitet werden durfte. Auch wenn sich nach einiger Zeit Gerüchte um das alte Haus rankten, fiel niemandem auf, dass bei einigen der Patienten eine seltsame Krankheit ausbricht, die zu akutem Blutmangel führen…