Jagdszene

(1994 Copyright by Heshthot Sordul)


Gehetzt blickte er sich um.

Die trüben Straßenlaternen spiegelten sich in den Regenpfützen der leeren Gasse. Rechts ragten alte baufälliger Häuser hoch, deren eingeworfenen Fenster wie mit blinden Augen auf ihn herabsahen. Links versperrte eine mannshohe Ziegelmauer, deren Putz aussah, als leide die Mauer an einer schweren Form der Akne, den Blick auf den städtischen Friedhof. Er atmete schwer. Noch war niemand zu sehen. Noch schien er einen Vorsprung zu haben. Zum wohl hundertsten Mal innerhalb der letzten halben Stunde ließ er die Trommel seines Revolvers seitlich herausschnappen. Zum wohl hundertsten Mal blickte er auf die noch verbliebenen zwei unversehrten Patronen. Zum wohl hundertsten Mal nahm er sich vor, die letzte der beiden Bleigeschosse für sich selber aufzubewahren.

Er ließ die Trommel wieder einschnappen und vergewisserte sich, daß eine scharfe Patrone unter dem Hahn lag, den er auch sofort spannte. Noch einmal sah er sich um. Bis auf einen räudigen alten Hund, der im fahlen Lichtkegel einer Laterne das Bein hob, war er alleine. Dann lief er los. Seine Stiefel verursachten ein hallendes Stakkato auf dem feuchten Kopfsteinpflaster und seine grüne Bomberjacke blähte sich auf, wie ein Ballon. Seine kurzen Haare waren schweißnass und verliehen ihm das Aussehen eines Igels, der in einen Teich gefallen war. Das zerrissene nicht gerade saubere T-Shirt klebte an seinem Körper, als er in eine kleine Nebengasse abbog. Gelblicher Dampf quoll unheilschwanger aus den Gullydeckeln und an den Hauswänden rechts und links von ihm stapelte sich der stinkende Müll von Wochen.

Er hastete weiter, nur um nach einigen Metern feststellen zu müssen, daß er in eine Sackgasse geraten war. Eine mindestens vier Meter hohe Mauer versperrte ihm den Weg. Er blieb einen Moment stehen und rang keuchend nach Luft. Wieder zelebrierte er das Revolverritual. Klick – Trommel auf, klack – Trommel wieder zu. Als er nicht mehr das Gefühl hatte, sein Herzschlag würde seinen Kopf zum Explodieren bringen, lief er wieder zurück. Er hatte die halbe Strecke überwunden, als er abrupt stehen blieb. Seine Augen weiteten sich und ein Seufzen entrang sich seiner Kehle. Vor ihm befand sich das Ende der kleinen Gasse und er konnte die Beleuchtung der Straße bereits sehen. Zwischen ihm und der Straße quoll grünlicher Dampf aus einem Gully, als käme er direkt aus der Hölle. Durch die wabernden Schwaden konnte er die dunklen Umrisse einer Gestalt erkennen, die gemessenen Schrittes langsam näher kam, den Dampf durchquerte und dann ungefähr drei Meter vor ihm stehen blieb. Sein Herzschlag stockte und für einen Moment mußte er mit weit geöffnetem Mund nach Luft ringen. Ihm war, als würde ein innerer Druck seine Organe zerquetschen. Der Mann welcher vor ihm stand, trug einen schwarzen Ledertrenchcoat, ein T-Shirt und eine Jeans in der gleichen Farbe. An den Spitzen seiner ebenfalls schwarzen Westernstiefel waren spitze silberne Beschläge angebracht, welche leicht im diffusen Licht des mit Wolken verhangenen Vollmondes schimmerten. Das Gesicht des Mannes war ebenfalls weiß wie Elfenbein, nur rührte dieser Teint nicht von Theaterschminke her, sondern war die natürliche Hautfarbe, welche von den langen tiefschwarzen Haaren, die weit über die Schultern herabfielen grell abstach. Trotz der Dunkelheit trug er eine schmale verspiegelte Sonnenbrille. An der linken Hand trug der Unheimliche einen großen Silberring in welchen ein roter Rubin eingearbeitet war.

Der Mann legte den Kopf ein wenig zur Seite und lächelte. Seine schneeweißen langen Zähne schienen von innen heraus zu leuchten. So fixierte der Schwarzgekleidete ihn einen Herzschlag lang. Dann sprach er mit leiser rauer Stimme:

"Aber mon ami, was möchtest Du denn mit dieser gewalttätigen Waffe dort?"

Zitternd richtete der Angesprochene den Revolver auf seinen Gegenüber und sagte mit bebender Stimme:

"Verdammt, bleib´ mir vom Leib Du Ungeheuer oder ich baller Dich um ..."

Das Lächeln wurde noch breiter und entblößte jetzt die langen spitzen Fangzähne des Mannes. Gespielt langsam sah er über seine Schultern, dann sah er den jungen Mann, der immer noch den Revolver auf ihn richtete, an und sprach:

"Aber, aber... – wen nennst Du denn hier ein Ungeheuer? Doch wohl nicht mich?! Ich habe kein Fest auf dem Friedhof gefeiert. Ich habe keine Grabsteine beschmiert und ich bin auch nicht in die Gruft eingedrungen, um die Schädel toter Menschen zu stehlen. Nenn´ mich also nicht Ungeheuer! Mein Name lautet de Vaux, Lucien Comte de Vaux und ich mag es überhaupt nicht, wenn man einen solch friedvollen Platz schändet, mon ami!"

"Das geht Dich einen Dreck an",

kreischte der Junge, dem mittlerweile die Tränen über die schmutzverschmierten Wangen liefen,

"Du hast meinen Kumpel gekillt, Du Irrer! Hast ihm einfach seine verdammte Kehle raus gerissen. Du bist doch vollkommen irrsinnig. Mach Dich weg oder Gott ist mein Zeuge, ich schieße Dich über den Haufen. Noch mal schieße ich nicht daneben, wie gerade auf dem verfluchten Drecksfriedhof, das schwöre ich Dir, bei allem was mir heilig ist. Laß mich also gefälligst in Ruhe ... !!"

Der schniefende Junge blinzelte sich die Tränen aus den Augen. Als er wieder klar sehen konnte, war der schwarze Comte verschwunden. Hoffnung keimte in ihm auf. Sollte die Drohung gewirkt haben? Dann zerplatzte seine Hoffnung wie eine Seifenblase, als er die leise Stimme des Comte plötzlich an seinem linken Ohr vernahm.

"Oh, Du hast mich nicht verfehlt, mon ami. Du hast sogar recht gut getroffen. Mein Shirt ist ruiniert. Vier Löcher im Brustbereich. Oh la la, Du bist ein ausgesprochen guter Schütze. In der Tat!"

Der Skin wirbelte herum und schoß. Der Schuß hallte wie Donner in der engen Gasse, ging aber ins Leere, denn hinter ihm stand niemand mehr. Nur noch ein Schuß! Der Skin zitterte wie Espenlaub. Kaum war er noch in der Lage den Revolver zu halten. Immer wieder zogen die Ereignisse auf dem Friedhof an seinem inneren Auge vorbei. Wie er und sein Kumpel Ben, genannt Ratte, sich wie so oft auf den Friedhof schlichen, wie sie auf Grabsteinen sitzend die Flasche Jack Daniels hin und her gehen ließen, bis sie halb leer war. Wie sie rechtsradikale Symbole auf die Grabsteine sprühten und wie sie dann die Gruft aufbrechen wollten, weil Ratte unbedingt einen weiteren Totenschädel in seiner bereits beachtlichen Sammlung haben wollte. Sie genossen die morbide Atmosphäre des Friedhofes und die mit ihrer illegalen Handlung verbundenen Adrenalinstöße. Und dann tauchte auf einmal dieser Irre auf. Zuerst dachte er noch, es handele sich um einen Gothic, denn der Typ war leichenblaß und trug schwarze Klamotten. Als er ihn vom Rande des Friedhofes in ihre Richtung kommen sah, stieß er zischend seinen Kumpel an, um ihn auf den Neuankömmling aufmerksam zu machen, wobei er dem Schicksal dankte, daß es ihm in dieser Nacht noch eine weitere Freude bereiten würde. Der Skin hasste diese Leute, welche sich ihnen gegenüber immer so überheblich benahmen, die immer nur unter sich blieben und mit denen er so gar nichts anfangen konnte und die Gelegenheit einmal einen Gothic alleine anzutreffen und ihm so richtig die Visage zu vermöbeln hatte er nicht all zu oft. Ratte drehte sich um und starrte direkt in das bleiche Gesicht des Fremden, der die Differenz zwischen sich und den beiden Skinheads innerhalb von Sekundenbruchteilen überwunden haben mußte. Das muß am Jacky liegen, dachte er noch so bei sich, als die Hand des Fremden vorschoß und seine sehnigen Finger Rattes Hals umklammerten und er das erste Mal diese leise unheimliche Stimme des Fremden vernahm.

"Bon nuit mes amies, ich fürchte ich kann es nicht dulden, daß ihr diese schöne Gruft entweiht!"

Dann riss er dem armen Ratte mit einem Ruck die Kehle heraus, wobei er direkt zur Seite sprang, um nicht von der aus Rattes Arterie spritzenden Blutfontäne getroffen zu werden. Niemals in seinem Leben würde er dieses reißende schmatzende Geräusch vergessen, mit dem sich der Kehlkopf vom Hals löste. Er riß seinen Revolver aus der Jackentasche, legte an und schoß vier mal auf den geisteskranken Killer. Dann rannte er so schnell ihn seine Füße trugen weg von der Gruft. Wie er die Friedhofsmauer überwand, wußte er nicht mehr, aber an das Grauen, welches er empfand, als er von der Mauerkrone einen letzten Blick zurück auf den Friedhof warf und sah wie Rattes Mörder aufstand und in seine Richtung blickte, konnte er sich noch sehr gut erinnern. In diesem Augenblick überprüfte er erstmals, wie viele Patronen ihm noch geblieben waren und faßte für sich den Entschluß, sich die letzte Kugel lieber selber in den Schädel zu schießen, als sich auf diese Weise umbringen zu lassen. Dann sprang er von der Mauer und rannte. Und nun hatte ihn der Irrsinnige in der Falle und es befand sich nur noch eine scharfe Patrone in der Trommel. Er wirbelte wieder herum. Einen Schritt von ihm entfernt stand der Fremde und lächelte ihn freundlich an. Er richtete zitternd den Lauf der Waffe auf ihn und flehte mit weinerlicher Stimme, unterbrochen von herzergreifenden Schluchzern:

"Geh weg ..., bitte ... geh doch endlich weg. ... Laß mich doch bitte in Frieden. ... Ich hab Dir doch nichts getan. ... Bitte !!"

Der Comte de Vaux nickte verständnisvoll mit dem Kopf.

"Oui, das ist wohl war. Du hast m i r nichts getan. Aber Du und Dein Gefährte habt versucht ein Grab zu schänden. Nun – derjenige, welcher in diesem Grab ruht, ist ..., war ein Freund von mir. Und ich schätze es nicht, wenn meine Freunde belästigt werden, selbst wenn sie tot sind !!"

Er lachte kurz humorlos auf.

"In der Tat sind die meisten meiner Freunde irgendwie - ... tot!"

Mittlerweile weinte der Skin zum Herz erweichen und konnte vor lauter Schniefen und Schluchzen kaum noch ein Wort herausbringen.

"Aber ..., wir ... – es ist ... doch ... nichts passiert. ... Wir ..."

Und dann brach ihm die Stimme und er konnte nur noch weinen, wobei ihm der Rotz aus der Nase lief. Alles in ihm bestand nur noch aus Furcht. Die alles überwältigende Angst schnürte ihm den Hals zu und er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, so sehr zitterten seine Knie. Dies mußte enden. Er konnte diese unendliche Furcht nicht länger ertragen. Mit einer letzten gewaltigen Willensanstrengung richtete er den Revolver gegen seine Schläfe. Mit seinem tränenverschleierten Blick konnte er den Comte kaum noch erkennen. Als er den Finger am Abzug krümmte, galt sein letzter Gedanke seiner Mutter, der er immer nur Ärger bereitet hatte. Sie haßte seine Aufmachung, die kurzgeschorenen Haare und ganz besonders die vielen Tätowierungen, die er überall am Körper trug. Fast täglich hatten sie sich deswegen gestritten und meistens endeten diese Streits damit, daß er sich wortlos umdrehte und seine Mutter, die seit dem Tode seines Vaters niemanden mehr hatte, als ihren Sohn, einfach stehen ließ. Gott – wie sehr er das in diesem seinem letzten Augenblick bereute. Dann schlug der Zündbolzen auf die Patrone und der Schuß entlud sich. Es knallte laut und er war auf dem rechten Ohr taub. Doch ansonsten geschah nichts. Keine Bleikugel durchdrang seinen Schädelknochen, nichts zerfetzte sein Gehirn. Er lebte immer noch. Der Comte stand jetzt direkt vor ihm und hielt seine Revolverhand, die in den dunklen, wolkenzerfetzten Himmel ragte mit festem Griff umklammert. Das war zu viel für den Skin. Als der Comte seinen Arm los ließ, sank er wimmernd in die Knie, geschüttelt von einem nicht enden wollenden Weinkrampf. Er spürte, wie ihm der Comte zärtlich über den Kopf streichelte, wie die Außenfläche seiner eiskalten Hand sanft über seine Wangen hinunter zum Kinn strich. Dann wurde sein Kopf vorsichtig nach hinten gedrückt und er sah den Comte vor sich knien. Fast berührte die fahle Wange des Franzosen seine eigene und er hörte das Flüstern des Comte ganz nah an seinem Ohr.

"Schschsch ..., nicht weinen. Ich erlöse Dich von Deinem Leid mon amour, wenn Du das wünschst. Nicke nur mit dem Kopf und ich befreie Dich von allem Kummer."

Dabei streichelte er weiter zärtlich seinen Hinterkopf. Der Skin wollte etwas sagen, aber er konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Er hörte immer wieder die sanfte Stimme in seinem Kopf:

"Nicke mit dem Kopf, nicke mit dem Kopf, nicke ...!"

Und er nickte! Er spürte die kalten Lippen des Comte auf seinem Hals, verspürte das Prickeln, welches dessen Zunge auf seiner Haut verursachte und zuckte dann leicht zusammen, als sich die nadelspitzen Fangzähne durch seine Haut bohrten und seine Halsschlagader aufschnitten. Als der Comte begann sein Blut zu saugen, verließ ihn jeglicher Schmerz und er verspürte einen nie gekannten Frieden in sich. Das letzte Gefühl, welches er verspürte bevor er das Bewußtsein verlor war der Scham über die Erektion, die er bekam, als ihm der Comte sein Lebenselixier aussaugte, dann wurde es dunkel um ihn. Er träumte von einer weichen Wiese voller lieblich duftender Blumen, auf der er nackt lag, während die warme Sonne ihm auf die Haut schien, dann erlosch sein Ich vollends.

Die Leichen der beiden Skins wurden nie gefunden. Sie wurden in die stetig anwachsende Liste Vermisster eingetragen, die Scotland Yard führt und zwar unter der Rubrik `AUSSICHTSLOS´.

Ende dieser Jagd