Die Ankunft
Entschlossen schritt Jessica Dawning auf die kleine Bibliothek des noch
kleineren Ortes zu.
Dies hier war nicht unbedingt die Art Arbeit, auf die sie scharf war -
und so hielt sich ihre Begeisterung in Grenzen. Dennoch hatte sie sich
vorgenommen, das Ganze so professionell und begeisternd anzugehen, wie sie
nur konnte. Auch eine einfache Aufgabe wurde in ihrer Agentur eingehend
gemustert. Und sie wollte nicht schon in den ersten Wochen negativ
auffallen. Auch wenn das Ganze nicht viel hergab, so wollte sie doch das
maximale herausholen. Das war eben ihre Art. Auch wenn sie sich den Start
in das Berufsleben nach 5 langen Jahren Studium doch ganz anders
vorgestellt hatte...
Aber jedes ihrer großen Vorbilder der Journalisten und Autoren hatte
irgendwann klein
angefangen. Und da bildete sie keine Ausnahme. Und immerhin hatte der
neue Job in einer Presseagentur einen weiteren Vorteil : Zeit ihren Doktor
zu machen. Das Thema stand noch nicht in ihrem Kopf - aber sie wusste, was
sie wollte. Das hatte sie schon immer und davon würde Sie auch nichts
abbringen. Schon gar nicht der neue Beruf, schon gar nicht die neuen
Kollegen. Es war ihr erster Beruf nach dem Studium und sie wollte sich
beweisen. Und das war in der großen Redaktion der bekannten Tageszeitung
nicht einfach. Schon gar nicht dem Neid der neuen Kollegen gegenüber, dem
sie ausgesetzt war. Die einen sahen in ihr die "neue, Blonde",
wie sie gehört hatte, für die anderen war sie "die
Unerfahrene". Beide Vorurteile ließ man sie mehr oder weniger
deutlich und offen spüren und das machte gerade die neue Zeit, alleine in
der großen Stadt mit ihren eigenen Regeln, nicht gerade einfacher...
Kurz hielt sie inne, orientierte sich, holte tief Luft und zog den
Kragen des schweren Mantels etwas enger zusammen. Es war wieder kalt
geworden. Die Luft roch nach Schnee und der Himmel zeigte ein tristes
Grau. Und sie selbst war hier fernab der Großstand in einen kleinen,
unbedeutenden Ort und hatte mehrere Tage mit Routine vor sich. Aber die
Agentur war etwas besonderes, hatte das, was man einen "Namen"
nannte. Und die größeren Aufgaben versprachen sehr interessant zu
werden. Aber wie jeder Neuling musste sie sich zuerst die Sporen
verdienen. Junior Berater wurden immer gerne als Informationssammler zur
Recherche eingesetzt. Und genau in dieser Funktion fand sie sich gerade
wieder. Dabei reichte es nicht, sich auf Internet, alte Unterlagen und
andere bestehende Quellen zu verlassen. Ihre Agentur war dafür bekannt,
immer noch neue Details zu finden. Und genau das lässt sich verkaufen.
Und letztendlich konnte sie diese Aufgabe auch als Herausforderung sehen.
Professionell wollte sie an die Sache herangehen.
Und ihr erster Schritt war die Bibliothek des kleinen Ortes. Hier fand
sich meist immer ein Archiv der städtischen Zeitung. Zumindest, wenn der
Ort so klein war, wie dieser. Das Zeitungsarchiv hatte sie an die
Bibliothek verwiesen. Genau vor der stand sie nun und musterte
misstrauisch die kleinen Glastüren. Keine Frage, als Publizistin liebte
sie Bücher.
Aber sie bezweifelte, hier mehr sinnvolle Hinweise zu finden, die etwas
Neues zeigten.
Vielleicht würde sie den Ganzen Nachmittag mit dem Studium alter
eitungsausschnitte
verbringen und keine neue Information erhalten. Angelesen hatte sie
sich bereits so ziemlich alles, was das Agenturarchiv hergegeben hatte.
Das war zugegeben alles relativ umfangreich gewesen - zugleich aber war
sie nicht "satt" davon geworden. Ihr fehlten verschiedene
Betrachtungsweisen und eine gewisse "Tiefe" in der
Berichterstattung. Und genau das war es, worauf sie bei ihrer Arbeit
hoffte: etwas mehr "Tiefe" geben zu können. Neue Einsichten,
interessante Betrachtungsweisen. Die von ihr gesichteten Berichte und
Unterlagen wiesen schon ein paar Jahre des Alters auf, es gab Lücken
zwischen möglichen Zusammenhängen.
Und das war auch anderen aufgefallen.
Wie zu Hause fühlte sie sich, als ihre Schritte in die Bibliothek
führten. Ein kurzer Blick und sie sah sich um. Warum in aller Welt
glichen sich alle kleinen Bibliotheken aller kleinen Orte immer dermaßen?
Buchausgabe direkt neben dem Eingang, viel Grün, alles ein wenig
karg...
Und diese hier wich auch nicht weit von den anderen ab, die sie in den
letzten Monaten zur Genüge besucht hatte. Sie verfluchte mit leisen
Worten ihren Redakteur, der ihr mal wieder diesen Auftrag zugeschanzt
hatte. Wahrscheinlich saß er jetzt im warmen Büro in der Großstadt,
während sie hier taube Finger und Ohren hatten, die erst jetzt wieder
langsam anfingen sich zu erwärmen und deshalb leicht schmerzten. Jessica
schlug den Mantel zurück und hängte ihn an der Garderobe auf. Das gab
ihr die Zeit, sich umzusehen ohne besonders aufzufallen. Sie mochte es
nicht, an neue Orte zu kommen, die sie nicht kannte. Ein neugieriger Blick
des Bibliothekars an der Ausgabestelle musterte sie kurz aber etwas zu
intensiv für ihren Geschmack. Sie war hier in der kleinen Stadt ein neues
Gesicht. Und neue Gesichter fielen eben besonders auf. Stolz blitzt in
ihren Augen auf. Sie mochte es nicht, auf diese Art und Weise aufzufallen.
Jessica lächelte zum Angestellten und warf ihr langes, blondes Haar
mit einer eleganten und routinierten Bewegung des Kopfes zurück.
"Also los geht es" sagte sie im Kopf zu sich selber.
Ein paar verschwundene Jugendliche, von denen einer in einer entfernten
Großstadt wieder aufgetaucht war. Aber drei fehlten noch, waren noch
vermisst. Alle aus diesem kleinen Ort. Für die Polizei ein Fall der
Großstadtsucht und des Ausreißens. Für Jessica inzwischen auch.
Alles deutete daraufhin, das die drei in Aschaffenburg oder Frankfurt
irgendwo in einer
Spielhalle saßen und die Zeit genossen. Wenn auch diese Zeit in einen
der drei Fälle über zwei Monate zurücklag. Aber sie und jeder andere
auch kannte Geschichten von Ausreißern und besonders die, der weiblichen.
Jessica verdrängte die Gedanken und sah sich noch einmal um. Die
Bücherei war klein aber zweistöckig mit grünen Teppich ausgelegt. Viel
Holz, viel Glas. Modern und dennoch sah man das Alter des Gebäudes auch
wen im inneren Wert auf moderne Erscheinung gelegt wurde.
Mit langsamen Schritten hatten sie unter den Blicken des jungen Mannes
dort die
Buchausgabe erreicht.
"Kann ich ihnen helfen...?" fragte der junge Angestellte und
musterte sie immer noch
interessiert. Seine schmale Brille war dabei auf die Nasenspitze
gerutscht und entblößte zwei wache, graublaue Augen, die zum blonden
Haar passten und sein jugendliches Aussehen verstärkten aber wach und
freundlich wirkten. Offenen Augen waren das Tor zur Seele und dieser junge
Mann hatte diese noch.
Jessica blickte auf die Uhr und vergewisserte sich, das sie pünktlich
war. Sie sollte sich in wenigen Minuten mit dem Redakteur der lokalen
Zeitung hier treffen. Sie fragte den jungen Mann nach dem Mann, und der
nickte. Er erklärte ihr, das der gesuchte sich oben bei den Archiven
befand und der Zeigefinger des jungen Mannes deutete auf eine breite
Treppe herüber.
Sie stieg eine breite Treppe herauf und fand sich wieder zwischen
Sachbüchern, Romanen und Biographien. Vor einem tiefen Schrank mit
Rollschubläden stand ein älterer Mann und sortierte kleine Kärtchen.
"Herr. Kröger?" fragte Jessica etwas lauter und ging auf ihn
zu. Der Mann blickte überrascht auf, musterte sie kurz und nickte dann.
"Ja, Kröger mein Name..." sagte er und musterte Jessica noch
einmal und länger. Die stellte sich vor, holte ihren Presseausweis aus
der kleinen Handtasche und erntete ein weiteres nicken.
"Aus der Großstadt, soso...?!" sagte ihr Gegenüber nur und
verzog eine Augenbraue. Jessica nickte stumm und fragte sich, was immer
dieses "so so" auch heißen mochte. Sie lächelte den Mann an,
als er die Schubladen zudrückte. Dabei bemerkte sie, das er einen recht
beachtlichen Umfang hatte. Sein Haar war blond und schütter, eine leicht
gerötete Glatze kam zum Vorschein. Das Gesicht war Rund und hatte dicke,
fleischige Lippen. Zudem setzte er sich eine Brille auf und machte eine
weitausholende Geste als er anfing zu sprechen "Wobei kann ich ihnen
helfen...?" fragte er und zeigte seine Zähne, was wohl ein Grinsen
sein sollte.
Dennoch strahlte er auf Anhieb eine gewisse Sympathie aus, was ihn
wieder angenehmer machte.
Jessica sprach ihn auf die verschiedensten Dinge an, kam auch auf die
Ausreißer zu sprechen. Im Grunde erfuhr sie nichts neues, konnte aber
ein, zwei Dinge revidieren und frischte alles zu einem passenderen Bild
für sich auf. Menschen verschwanden des öfteren, das passierte. So
tragisch es auch war. Und noch tragischer war es im Fall von Kindern oder
Jugendlichen.
Manchmal fanden sich Spuren in die eine oder andere Richtung oder die
Vermissten tauchten wieder auf. Hier aber war jede Spur im Sande
verlaufen, es hatte keine klaren Hinweise auf ein Verbrechen gegeben aber
wieder aufgetaucht war auch keiner der Vermissten.
Erst nach drei Stunden kam Jessica aus der Bücherei wieder in die
novemberliche Kälte heraus. Kröger war zwar redselig aber wenig
hilfreich gewesen: Sicher wusste er über die Kinder zu berichten aber
weiter hatte er sich zu dem Thema nicht mehr geäußert. Viel mehr war er
in ihrer Person interessiert gewesen. Ein Umstand, der ihr nicht gerade
angenehm gewesen war. Sie war froh sich verabschieden zu können.
Freundlich aber bestimmt! Sie hatte eine Unzahl Zeitungsausschnitte
gesichtet und noch mehr davon kopiert. Zusammen mit Fotos trug sie diese
in einer kleinen Mappe unter dem Arm. Sie würde diese später sichten und
auswerten. Insgesamt waren drei jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren
in den letzten Jahrzehnten verschwunden. Es gab Hinweise, die auf ein
ausreißen deuteten.
Die kalte Luft tat gut. Einzelne Schneeflocken tanzten durch die Luft
und landeten kühl kitzelnd auf ihrem Gesicht. Jessica trat über die
Straße, sprang elegant über den dreckigen Schnee am Bordstein und ging
zu dem kleinen Parkplatz auf der auch ihr Wagen stand. Ihr entging der
Blick Krögers, der im oberen Stock der Bücherei am Fenster stand und ihr
nachsah. Sie verfluchte es, mit dem Rauchen aufgehört zu haben. In
Momenten wie diesem sehnte sie sich nach dem Gesucht des Tabaks. Aber sie
war auch zu dickköpfig um diesem Gefühl nachzugeben. Zumindest jetzt
noch.
Minuten später rollte sie in ihrem Wagen durch die Ortschaft und zu
ihrer Pension. Ein Hotel hatten die hier nicht. Zumindest hatte es
geschlossen und würde erst gegen Weihnachten aufmachen, wenn sich doch
noch Touristen oder Besucher der großen Städte hierher verirrten.
Aber ihre Pension war gemütlich, sauber und hatte etwas rustikales.
Außerdem musste Jessica immer einen Blick auf die Spesenkasse richten:
Und die war wie immer nicht gerade üppig. Zudem war das Haus mit den
Namen "Garni" aus einen anderen Grund geradezu ideal: der Alte
Mann, dem die Pension gehörte kannte die drei Verschwundenen. Zumindest
vom Hörensagen oder sehen. Das war in diesen kleinen Ort auch nicht
weiter verwunderlich. Die letzten Verbrechen lagen Jahre zurück;
Abgesehen von kleineren Ladendiebstählen und Sachbeschädigungen. Da war
das Verschwinden der Drei eine mittlere bis große Sensation gewesen und
hatte den lokalen Zeitungen tagelang Stoff geliefert. Ganz abgesehen von
dem
Gerede der hier "einheimischen", und da hatte sie immerhin
einen redseligen dieser Art in ihrem Pensionsvater getroffen.
Erfreulicherweise. Informationen konnten aus allen Richtungen kommen.
Hoffentlich verlor sie nicht die Übersicht und konnte das alles später
noch sinnvoll ordnen. Aber im Moment war sie dankbar für alles, was an
sie herangetragen wurde.
Vorsichtig lenkte sie den Wagen um eine enge Kurve, auch wenn hier auf
den Straßen kein Schnee mehr lag, so war sie lieber vorsichtig. Sie warf
einen kurzen Blick auf die Zeitung neben sich. Ein kleines, lokales
Blättchen, viel Werbung, Lokalkolorit. Jessica hatte sich natürlich die
verschiedenen Ausgaben der letzten Jahre aufmerksam angesehen und die
Artikel über die drei Ausreißer gesucht und gesichtet. Schon lange aber
waren die Meldungen über die drei wieder kleiner geworden bis sie
schließlich ganz verschwanden. Auch hier verlor man schnell das Interesse
an solchen Dingen und waren sie noch so schrecklich. Jessica hatte sich
die Fotos der drei verschwundenen angesehen.
Es waren ausnahmslos junge, hübsche Jugendliche mit einen strahlenden
Lächeln. Fünfzehn,
16 und 17 Jahre Alt. Zwei Jungen und ein Mädchen. Sie hatten keine
Briefe hinterlassen, kamen anscheinend aus intakten Kleinfamilien, hatten
keine schulischen Probleme und jeweils eine Menge an Freunden. Es schien
– außer dem Bezug zum Wohnort – keine all zu überschneidenden
Gemeinsamkeiten zu geben. Es waren beide Geschlechter verschwunden was den
Bezug zu einem sexuellen Verbrechen möglich aber nicht sehr
wahrscheinlich machte. Auch Jessica wusste aus Erfahrung, das sexuelle
Übergriffe eher vereinzelt und gezielt als geschlechterübergreifend
geschahen.
Jeder aus dem Umfeld der jugendlichen war überrascht über das
Verschwinden, niemand konnte bestätigen, das sie Feinde hatten. Es gab
keine allzu bedeutenden Probleme mit den Eltern, alle kamen aus den so
genannten „geordneten Verhältnissen“, keiner war in irgend einer
Weise bisher negativ aufgefallen oder hatte den übermäßigen Hang zur
Selbstständigkeit, was ein Ausreißen erklärt hätte. Die kannten sich
vom sehen, waren aber weder miteinander befreundet noch hatten sie
gemeinsame, engere Kontakte. Sie gingen sogar in verschiedene Schulen.
Einen verbindenden Faden zu finden, war also nicht so einfach, wie sie
gehofft hatte.
Aber Jessica kannte solchen Fälle aus der Gegend: die nahen
Großstädte verlockten zu
Abenteuern, die in vielen Fällen tragischer Enden als sie von den
jungen Leuten geplant
waren. Zumindest war das eine plausible Erklärung, die von der Polizei
vertreten wurde und an die sich die betroffenen Eltern verzweifelt
klammerten.
Endlich rollte sie auf den kleinen Vorplatz ihrer Pension und stellte
den Wagen ab. Sie trat in das kleine Haus und sah beim Schließen der Tür
ihren dampfenden Atem nach. Es wurde gegen Abend wieder kälter und es
würde sie nicht wundern, wenn diese Nacht wieder neuer Schnee fiel. Leise
schloss sie die Ausgangstür wieder ab und ging in ihr Zimmer. Es
herrschte gemütliche Wärme und Jessica rieb die Hände aneinander.
Vielleicht war dies hier ihr letzter Tag, denn mehr gab es hier im
Grunde nicht zu finden. Die drei waren ausgerückt. Zumindest glaubten das
alle, denn ein Hinweis auf ein Verbrechen fand sich nicht. Leise seufzte
sie. "Noch nicht..." fügte sie in Gedanken hinzu, denn wer
weiß, wo die drei sich aufhielten und was sie gerade taten. Ein
Verschwinden ohne Geld war immer eine heikle Sache - denn Geld war immer
nötig. Und auf dem Wege an Geld zu gelangen hinterließ man zwangsweise
die eine oder andere Spur. Bisher aber nicht in diesen Fällen.
Jessica Dawning wusste aus zahlreichen Telefonaten mit den Behörden,
das diese die Suche auch auf die nahen Städte ausgeweitet hatte. Aber im
Bereich Rotlicht oder nicht Wohnhafte war bisher noch keiner der
verschwundenen aufgefallen. Das war sowohl positiv als das es auch seine
Schattenseiten hatte...
Plötzlich Jessica hatte sie Durst auf einen Kaffee aber leider keinen
im Zimmer, geschweige denn eine Möglichkeit einen zu machen. Also zog sie
sich wieder den langen, dunklen Mantel über, griff sich ihre gelben
Handschuhe und verließ die Pension.
Dieses Mal zu Fuß. Bewegung würde ihr gut tun und sie mochte die
winterliche Jahreszeit. Irgendein Café würde sich finden lassen,
notfalls auch eine der kleinen, gemütlichen Kneipen im rustikalen Stil.
Leichter Schneefall hatte eingesetzt und war nun dichter geworden, die
Temperaturen fielen noch mehr ab. Ihr Atem dampfte bereits vor dem Mund
und das Café gewann für sie in ihren Gedanken immer mehr an
Attraktivität. Sie fand auch erstaunlich schnell eine Pizzeria die ihr
zusagte und trat fröstelnd ein. Auch hier herrschte zum Glück eine
angenehme Wärme die sie wohlwollend begrüßte. Jessica legte ab und
setzte sich an einen kleinen Tisch. Neben ihr war eines der großen
Fenster und zeigte einen dunkelgrauen Novemberabend. Es hatte aufgehört
zu schneien doch die Kälte nahm immer mehr zu. Sie sah zu, wie dick
umhüllte Personen an ihr vorübergingen und sich beeilten der Kälte zu
entrinnen.
Ihr Kaffee kam und der junge Mann lächelte sie freundlich an, als er
auftischte. Jessica war die einzige Kundin in den kleinen Café. Wie auch
den Tag zuvor. Sie sprach ihn kurz an: "Läuft das Geschäft
nicht..." fragte sie und deutete in die Runde. Der junge Mann hob
kurz die Schultern. "Im Moment nicht. Noch keine Saison, wissen
sie...". Jessica nickte. Der Mann drehte sich um und wollte gehen.
Doch halb in der Drehung hielt er noch einmal inne und sah sie dann wieder
an.
"Sie sind die Reporterin, oder...?" fragte er geradeheraus
und blickte sie an.
Jessica nickte überrascht in sein anfangendes Lächeln.
"Journalistin..." berichtigte sie
innerlich aufseufzend.
"Spricht sich das so schnell herum?" fragte schnell sie und
runzelte dabei die Stirn. Der junge Mann nickte eifrig. „Dies hier ist
wirklich ein kleiner Ort. Sie kennen doch das Klischee: Nicht verbreitet
sich hier so sehr, wie Neuigkeiten...“. Er zwinkerte ihr zu und sie
musste unwillkürlich grinsen. Er war jung aber er hatte einen gewissen
Charme.
Jessica nippte vorsichtig an ihren heißen Kaffee und blickte den
wartenden Ober an. Er schien also auf ein Gespräch aus zu sein.
Vielleicht um etwas mehr erzählen zu können? Oder um etwas mehr zu
erfahren? Sie hoffte auf das erstere....
Er stellte sich dicht vor ihren Tisch und legte sich das weiße
Handtuch, das ertrug über eine Schulter. Dies und sein dunkles Haar geben
ihm etwas italienisches. Er schmunzelte ihr zu und fragte sie direkt, ob
sie nach den Verschwundenen suche. Jessica nickte und er grinste.
„Nicht, das ich hellsehen könnte, aber in den letzten Jahren kamen
vereinzelt immer wieder Leute her, die immer nur nach dem einen
fragten...!“.
Jssica nippte wieder langsam an ihren Kaffee. „Und, haben diese Leute
denn auch mal etwas neues erfahren?“.
Er seufzte, sah sich schnell um und hob die Schultern. „Ich glaube
nicht. Was sollte es auch schon noch neues geben, was nicht irgendwo schon
bekannt geworden ist...! Wie gesagt, dies hier ist eine kleine Stadt.
Geheimnisse sind hier nicht wirklich geheim sondern nur zeitlich vor
anderen verborgen...“. Er klang ganz so, als habe er bereits seine
eigenen Erfahrungen hier gemacht. Jessica schenkte ihm ihr freundliches
Lächeln und war ein wenig enttäuscht.
„Sie können mir also auch nichts über die drei sagen, oder?“.
Insgeheim hatte sie gehofft, der junge Mann wüsste etwas mehr, immerhin
war er in den Alter der Verschwundenen. Aber was er dann sagte,
überraschte sie: "Nur die Drei? Ich dachte sie wären auch wegen den
ganzen anderen hier...?". Er hatte beide Augenbrauen hochgezogen, was
seiner Erstauntheit noch mehr Ausdruck verlieh, das sie nur drei
Verschwundene erwähnt hatte.
Überrascht setzte Jessica die Tasse ab und war hellwach. "Welche
anderen?" fragte sie nur und musterte ihn interessiert. Das schien
ihn verlegen zu machen und lächelnd sah er zu Boden, blickte sie dann
aber wieder fragend an: "Sagen sie bloß, sie haben davon noch nichts
gehört...?". Er fuhr mit einer Hand durch sein kurzes, braunes Haar.
Sie registrierte diese Geste genau. Er war jung, aber er versuchte sein
Glück bei ihr.
Jessica schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht, von was sie
sprechen..." antwortete sie sichtlich überrascht. Die ganzen
Unterlagen, die sie bekommen hatte, sprachen deutlich nur von drei Fällen
verschwundener. Eben diese drei Ausreißer, um die es ging, nach denen sie
suchte.
Der Junge Mann sah wieder über seine Schulter in den Laden zurück,
zeigte sich schließlich zufrieden und setzte sich an ihren Tisch, ihr
Gegenüber. "Wissen sie, ich bin nicht von hier und möchte keinen
Ärger bekommen, in dem ich mich in Dinge einmische, die mich nichts
angehen. Aber einer so schönen Frau kann ich nichts abschlagen...“.
Jessica lachte leise auf und er zwinkerte ihr zu. Sie war sich unsicher ob
er sie verschaukelte oder auf eine gewisse Weise mit ihr spielte. Er war
ein Schelm, das sah sie sofort. Verschwörerisch beugte er sich weiter zu
ihr vor.
"Andere? Noch mehr Kinder sind verschwunden?" fragte sie
unwillkürlich etwas leiser.
Der junge Kellner schüttelte energisch den Kopf und rückte noch
näher. "Nein, nicht mehr Kinder. Die andere eben! Die alte Sofia vor
zwei Jahren, der Bauer Reuter ebenfalls vor ein paar Jahren...". Er
sah sich um und machte eine verschwörerische Mine. Fast musste Jessica
lächeln, doch sie riss sich zusammen. Es war das erste Mal, das sie
hörte noch mehr Personen würden verschwunden sein. Interessanter Weise
also nicht nur Kinder. Warum war das bisher noch nicht an sie heran
getragen worden.
Sie beugte sich nun ebenfalls etwas zu ihm herüber und spielte das
Spiel mit: "Die sind alle verschwunden?" fragte sie und schaute
ungläubig. Der Junge Mann spürte ihre Zweifel und nickte schnell:
"Ja. Sicher. Alle haben es aussehen lassen, als wäre nichts
passiert. Die alte Sofia Giebel soll ihre Verwandten in der Stadt besucht
haben und dort geblieben sein! Der Bauer ist umgezogen! In eine andere
Stadt, heißt es...".
Er lachte kurz und trocken. Aber in seinen Augen blitzte etwas, das sie
neugierig machte.
"Was ist so ungewöhnlich daran?" entgegnete Jessica.
"Menschen ziehen um oder verreisen plötzlich. Da ist nichts
außergewöhnliches dabei..." fügte sie noch hinzu und nippte wieder
von ihrem Kaffee. Sie wollte mehr hören und wusste nun, wie sie ihn
locken konnte. Der junge Mann sah noch einmal über seine Schulter, bevor
er fortfuhr. "Die Alte Sofia hatte keine Familie. ich habe sie ein
paar Mal besucht, Einkäufe und so. Die hatte niemanden außer sich
selbst...!". Er blickte Jessica nun verschwörerisch an.
"Und der alte Bauer hatte Schulden. Nie im Leben hätte der seinen
Umzug finanzieren
können. Und beides kam plötzlich. Von heute auf Morgen. Keine
Ankündigungen, keine Vorbereitungen. Einfach weg. Und wenn er umgezogen
ist, in welche Stadt dann? Keiner hat mehr etwas von ihm gehört. Weder
sein heiß geliebter Stammtisch noch die anderen Bauern...".
Er machte eine entsprechende Geste mit den Händen wie ein Gegenstand
wie bei einem Zauberer verschwand.
Jessica war nun misstrauisch und hellhörig zugleich geworden und
hörte aufmerksam zu. "Wenn jemand umzieht, dann erzählt er es doch.
Oder plant es. Möbel, Gegenstände, was weiß ich..." sagte der
Junge und biss auf seine Unterlippe. "Aber nichts da. Alle Möbel und
sogar die Tiere waren noch da. Nur der Bauer war weg. Einfach
verschwunden. Andere Bauern kümmerten sich am nächsten Tag um die Tiere
die vor Hunger schreien. Die Polizei war schnell am Ort und schnell wieder
verschwunden. Mehr kann ich ihnen auch nicht sagen...! Und die alte Sofia?
Genau das gleiche. Sie hatte keine Verwandten mehr. Wo sollte denn eine
alte an Atrithis leidende Frau hin? Das Leben genießen?
Durchbrennen?".
Der junge Mann schwieg und sah Jessica an. Sie blickte überrascht
zurück und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Und obwohl sie noch gerne
das eine oder andere Wort mit ihrer interessanten Informationsquelle
gewechselt hätte, erschien in diesem Moment der Eigentümer der Pizzeria
und der junge Mann zog sich schnell aber bestimmt zurück. Anscheinend
mochte der Inhaber es nicht, wenn die Bedienung mit den Gästen redete.
Jessica merkte sich den jungen Mann und setzte ihn im Geist auf eine Liste
der später noch zu befragenden Personen. Er hatte ihr interessante
Neuigkeiten geschildert. Wenn sie auch nicht so recht glaubte, das diese
mit den drei jugendlichen in Zusammenhang standen. Aber man konnte nie
wissen. Und das war eine Spur zu groß für einen Zufall, wenn es denn
stimmte, was sie erfahren hatte...
Als sie zahlte, erfuhr sie noch den Namen des jungen Mannes. Aber vor
allen hatte sie die Namen der anderen. So recht glaubte sie nicht an die
Worte des Obers. Andererseits konnte es auch nicht schaden, danach bei
anderen Quellen zu fragen. Ihr schwebte da immer noch der freundliche
Besitzer ihrer Pension vor....
Und da erlebte sie ihre erste Überraschung: Als sie ihren
Pensionsvater fragte, zeigte der sich auf einmal abweisend und
verschlossen. Die ganze Zeit über hatte sie ihn am Abend im kleinen
Aufenthaltsraum gesehen. Denn dort stand der einzige Fernseher im Haus.
Zusammen hatte sie die Nachrichten gesehen und lockere Gespräche waren
zustande gekommen. Doch als sie ihn an diesen Abend nach bestimmten Dingen
fragte, da wurde er auf einmal kühl und abweisend und hatte plötzlich
anderes zu tun.
"Von den beiden weiß ich nichts...!" sagte er nur knapp und
starrte dann auf den Bildschirm auf dem ein Fußballspiel lief. Jessica
sprach ihn noch ein paar Mal darauf an, doch der Alte reagierte nicht
mehr. Später in ihren Zimmer rief sie über das Telefon in der Pension in
der Redaktion an und bat um einen weiteren Tag. Eher unwillig wurde der
genehmigt. Zwei, drei Tage waren das Maximum. Zudem es nichts aussah, das
aus dieser Geschichte irgend etwas werden würde. Aber die paar Hinweise
konnten auf ein paar interessante Wendungen hindeuten. Zumindest waren sie
es Wert, dem Ganzen noch einmal nachzugehen. Sie hatte da so ein
Gefühl...
Doch die nächste Überraschung kam am anderen Morgen: Ihrem zweiten in
den kleinen Ort Gruben, irgendwo im Spessart. Am Morgen in der Bibliothek
erlebte sie das gleiche wie am Tag zuvor. Der Mann am Empfang schob nur
seine Brille zurück und ignorierte sie dann.
Kröger war nicht zu finden. Um am Mittagstisch im einzigen wirklichen
Restaurant des
kleinen Ortes hatte de Wirt auf einmal etwas wichtigeres zu tun als ihr
etwas zu sagen.
Die Polizei konnte ihr auch nicht weiterhelfen. Beide Beamten konnte
nur etwas sagen, wenn sie entsprechende Schreiben da hätte. Das erstaunte
sie. Was war ein einen Umzug und den Besuch der Familie so seltsam, das
die Polizei nichts öffentliches verlautbaren konnte? Sie bohrte nach bis
die Beamten gequält zugaben, es hätte ein paar Nachfragen aus dem Dorf
zu den verschwundenen gegeben. Doch erbracht hatte das nichts. Auch wenn
dies eben nicht offiziell verlautet werden dürfte. Und umziehen sei eben
nicht verboten.
Am Nachmittag dann, nach der Polizei besuchte sie wieder das Café und
hatte Glück. Der junge Mann bediente wieder. Doch diesmal waren andere
Gäste anwesend. Drei Damen ein paar Tische weiter schienen ihr
Kaffeekränzchen hier abzuhalten. Und doch gelang es Jessica den jungen
Mann, Thomas sein Name, zu sich an den Tisch zu ziehen. Sie fragte nach
weiteren Informationen und erntete nur ein Schulterzucken. "Mehr kann
ich ihnen auch nicht sagen..." meinte er und blickte zurück in den
Raum. Er sah sie kurz und nachdenklich an: "Aber vielleicht kann der
Alte Harms ihnen helfen...". Er nannte ihr eine Adresse und schien es
dann wieder eilig zu haben, was auch an seinem Chef liegen konnte, der
sich wieder im hinteren Teil des Raumes zeigte. |