Alte Fotos...

 

Es war früher Nachmittag als Jessicas weißer Golf auf den Hof des Alten rollte. Sie lenkte ihn

direkt vor die Einfahrt, stieg aber noch nicht aus. Statt dessen suchten Ihre Augen das

Grundstück ab und fanden, was sie suchte: Ein Metallener Rahmen. Die Schaukel fehlte aber

dies war mit Sicherheit der Platz, wo die beiden Kinder aufgenommen wurden. Jessica sah in

den Rückspiegel. Sie betrachtete einen Moment ihre Augen. Eigentlich war es Wahnsinn, was

sie hier tat. Sie hatte keinerlei Anhaltspunkte oder Hinweise.

Aber vielleicht wusste der Alte mehr, als er zugegeben hatte. Und wenn sie so über die ganze

Geschichte nachdachte wurde diese immer seltsamer statt klarer. Eigentlich hatte sie erwartet,

zumindest eine Spur der jugendlichen zu finden, die irgend wo hin führte. Aber nun stand sie

praktisch ohne alles da. Sie blickte auf die Uhr. Kurz nach fünfzehn Uhr. Sie müsste um diese

Zeit eigentlich auf dem Weg zurück nach Frankfurt sein um dort den (ziemlich dünnen und

ergebnislosen) Bericht abgeben. Vielleicht war der Alte auch nur ein Freund der Kinder und

wusste etwas?

Und vielleicht war es dieses Wissen, das ihr weiterhalf. Sie spürte eine Neugier nach diesem

Wissen. Sie musste einfach in Erfahrung bringen, wo der Zusammenhang lag.

In ihr herrschte eine seltsame Unruhe, eine zehrende Aufregung. Es war, als wolle ein Teil

vor ihr weg. Und dies in einer unerklärlichen, panischer Angst. Eine Angst, die sie sich nicht

erklären konnte die aber tief in ihr steckte uns stärker wurde, je länger sie hier saß. Dann war

da der Teil in ihr, den sie selbst den "siebenten Sinn" nannte. Im Grunde war es nichts als

pure Neugier. Vielleicht gepaart mit einer gehörigen Spur Beharrlichkeit. Eine der.

Eigenschaften, die sie hoffte später als Journalistin oder Redakteurin auszubeuten. Und der

dritte Teil in ihr war unsicher, unbestimmt und zog sie hierher. Alles in allem wusste sie also

nicht einmal genau, was sie wollte.

Den Alten nach den Bildern fragen?

Fragen, wie er es geschafft hatte die Fotos zu schießen? Warum er sie immer noch auf einen

Regal stehen hatte? Vielleicht waren die Kinder doch nicht dem Grundstück ausgewichen.

Vielleicht hatten sie im jeden Sommer ein Eis und eine kühle Brause bekommen und sich

eben fotografieren lassen? Sie hoffte stark, das er etwas erwähnte, das für ihn vielleicht

unwichtig war, ihr aber entscheidend auf die Sprünge half.

Es waren immer noch viel zu viele Fragen und noch mehr Spekulationen. Seufzend öffnete

Jessica die Tür und erstarrte. Sie wollte aussteigen und sah direkt in die offene Haustür des

Hauses. Sie hatte schwören können, sie war bei ihren ersten Blicken vor Momenten noch

geschlossen gewesen!

Sie war sich sicher. Zumindest glaubte sie, sicher zu sein. Sie musste sich irren. Türen

öffneten sich nicht von selbst und der Alte war nirgends zu sehen. Und so gewandt war er

nicht, das er schnell wieder in das Haus verschwinden konnte. Schon gar nicht um die Tür

weit offen stehen zu lassen...

Vielleicht hatte der alte Harms sie gehört? Sicher hatte er das. Immerhin war ihr Golf das

einzige Fahrzug in weitem Umkreis und musste in der winterlichen Stille schon von weiten zu

hören gewesen sein...

Sie sah sich um. Hinter dem Haus erstreckte sich der Wald, hohe Bäume und Tannen. Sie

stand hier auf einen Feldweg, hinter ihr zwei große Felder. Umgeben von niedrigen

Sträuchern. Dann wieder Wald.

Sie war alleine auf weiter Flur!

Kurz und plötzlich machte ihr dieser Gedanke Angst. Sie sah sich um, blickte zu den Bäumen

und zum Haus. Niemand außer ihr war hier. Nur der kalte Wind und die hohen Bäume.

Sekundenlang kam sie sich auf einmal schrecklich verloren und verlassen vor. Niemand außer

ihr war hier.

Energisch öffnete sie die Tür und schwang ihre Beine hinaus. Wieder zögerte sie einen

Moment. Die große und schwere Holztür des kleinen Bauernhauses stand immer noch offen.

Fast schien das weiße Gebäude sie anzustarren. Und sein Maul stand einladend offen...

Jessica stand auf und schloß die Wagentür hinter sich. Sorgsam schloss sie ab und ging auf

das einfache Bauernhaus zu.

"Herr Harms?" rief sie fragend in die Stille.

Eine seltsame Stille, wie ihr auffiel. Aber es war Winter, außerhalb des Ortes. Was sollte hier

schon lärmen. Vielleicht fehlte ihr jetzt schon der ewige Grundlärm der Großstadt. Jessica

fragte sich ernsthaft, ob sie für ein Leben auf dem Land in keinster Weise geeignet war?

Inzwischen war sie an der Haustür. Sie spähte vorsichtig ins halbdunkle innere. "Herr

Harms...?". Sie klopfte an das dunkle Holz des Rahmens.

Keine Antwort.

Eine Minute stand sie unsicher in der Kälte. Sie zog den Mantel enger zusammen und sah sich

um. Bestimmt war der Alte kurz aus dem Haus gegangen. Aber wohin?

Also trat sie möglichst leise ein und schloß eben so still die Tür hinter sich. Sie rief noch

einmal den Namen des Alten. Und immer noch keine Antwort. Durch ein kleines Fenster fiel

ein wenig Licht ins innere des engen Flures. Er war über und über mit Holz vertäfelt und

wirkte rustikal. Aber irgendwie gefiel er ihr nicht. Das hohe Holz an den Seiten wirkte dunkel

und nicht gerade angenehm. Vielleicht hatte man früher ja auch so gebaut. Jessica bemerkte

sogar eine kleine Treppe, die nach oben führte.

Unsicher sah sie sich um. Es gefiel ihr gar nicht, einfach so hier einzudringen. Eigentlich hätte

sie die Tür von außen schließen und verschwinden müssen. Andererseits war dies eine

einmalige Gelegenheit. Sie schritt auf die Tür des Wohnzimmers zu. Sie war geschlossen.

Jessica bemühte sich, möglichst leise aufzutreten. Doch die hölzernen Bohlen knarrten und

knackten. Also gab sie es auf. Außerdem wollte sie den Alten nicht wie eine Einbrecherin

überraschen, wenn er im Wohnzimmer sitzen sollte. Sie legte die Hand auf die große,

gusseiserne Klinke und drückte sie herunter. Eigentlich hatte sie ein knarren der schweren Tür

erwartet. Doch diese schwang gehorsam und überraschend lautlos auf.

Jessica spähte in das kleine Wohnzimmer. Es war leer. Die Sessel standen verloren sich

gegenüber. Noch genau wie am gestrigen Abend. Jessica sah sich genauer um. Das

Wohnzimmer war nun durch zwei große Fenster einigermaßen erhellt. Sie erkannte wieder die

schweren Möbel. Einen hohen Schrank. Tisch und Sessel standen auf einen schweren

Teppich, der wiederum auf dem Boden lag.

Auf dem Tisch lag ein Buch. Eine Brille lag daneben.

Doch für sie interessant war das Regal neben der Tür. Zahlreiche Bilder standen dort. Große

und kleinere, meist in einfachen Rahmen mit Glas. Viele waren in schwarzweiß, viele

vergilbt. Sie sah kleine Jungen in Matrosenanzügen, ältere Männer mit Schnurrbärten in

ledernen Jacken die seltsam alt anmuteten. Dann wieder Mädchen und Frauengesichter. Ein

deutscher Soldat in Uniform stand stolz und blickte in die Kamera. neben ihm ein weiteres

Bild, das eine junge Frau mit weiten Hut, schmalen Lippen und einen dunklen Kleid zeigte.

Fast alle Fotos waren in schwarzweiß. Nur ein paar stachen farbig hervor. Unter anderem

auch das der beiden verschwunden Jungen. Sie sah es sich genauer an. Es waren wirklich die

beiden vermissten, kein Zweifel. Sie lächelten wie zum letzten Gruß in die Kamera. Vielleicht

mit zehn oder elf aufgenommen. Daneben stand ein weiteres. Es zeigte einen

hochgewachsenen Jungen. Mit Brille. Der dritte verschwundene trug eine Brille!

Absurder Gedanke, nichts deutete darauf hin, das dies der dritte war!

Zufall...!

Sie sah zum oberen Regal. Auch Fotos. Unzählige. Viele so alt, das die Schicht auf dem

Papier abblätterte. Kaum welche waren jünger. Aber allen war gemein, das sie nur einzelne.

Personen zeigten. Keine Paare. Keine Familienbilder. Keine kleinen Babys. Jessica stutzte.

Das war seltsam.

Sie hatte im Laufe ihrer paar Jahre bei der Recherchenabteilung mit zahlreichen älteren

Menschen sprechen müssen. Auch allein lebenden. Aber immer waren dort Fotos gewesen

mit deren Familien. Meist waren die alten Herrschaften der Mittelpunkt des ganzen gewesen.

Familien und Kinder hatten sich um sie geschart. Dann waren da Fotos von Hochzeiten,

Kommunionen, Mütter mit ihren Kindern, Babyfotos.

Das alles fehlte hier!

"Es freut mich, das sie so ein Interesse zeigen...!"

Die Stimme klang hart und klar hinter ihr auf und riss sie brutal aus ihren Gedanken.

Jessica wirbelte völlig überrascht herum, riß zwei Bilder von dem Regal und schrie leise und

erschreckt auf. Vor ihr stand der alte Harm und lächelte sie an. Mit seinem seltsamen Lächeln,

das die Mundwinkel nicht erreichte. Ihr Mund stand offen und sie zitterte.

Sie hatte nicht einen Ton gehört.

Nicht den geringsten!

Kein Knarren der Bohlen, kein Ächzen der Haustür, schon gar nicht den Schritt seines

gebeugten Ganges...

Und nun stand er hier direkt vor ihr, erwischte die ihm Fremde in seinen Haus vor seinen

Fotos und sichtlich überrascht. Eine unangenehme Situation.

"Ich..., ich wollte nur..., ich meine..." stammelte sie verlegen und fühlte sich unsicher. Sie

wusste nicht woher er gekommen war und wie lange er sie schon beobachtet hatte. Aber er

war da und sah sie an. Jessica folgte seinen Blick der zu ihren Füßen ging. Dort lagen zwei

Bilder die sich vor Schreck heruntergerissen hatte, als sie ihre Hände zurückzog. Sie bückte

sich, hob sie auf. "Entschuldigung..." sagte sie leise. Ihre Hände zitterten stark.

"Das wollte ich nicht...". Ohne weitere Worte hielt sie ihm die Bilder hin. Sein Lächeln

verschwand als er sie an sich nahm. Zum Glück war das Glas und die einfachen Rahmen heile

geblieben und nicht zerbrochen. Fast behutsam strich er darüber.

"Es freut mich, das sie mich wieder besuchen, junges Fräulein..." sagte er und trat an ihr

vorbei zum Regal. Seine schmalen Finger und Hände stellten das Foto zu den anderen.

Liebevoll tanzten seine Finger um den Rahmen des Fotos, glitten über das Glas und

zeichneten den Sprung darin nach.

"Aber hat man ihnen noch nie gesagt, das zuviel Neugier gefährlich sein kann...?". Seine

Stimme klang auf einmal weich und dennoch vernahm sie die massive Drohung in ihnen und

bei diesen Worten.

Weiter sagte er nichts und sah er sie nur direkt an. Er war so dicht vor ihr, das sie ganz genau

in seine Augen sah. Und wieder dieses kalte Blau, das ihr so unangenehm war. Und dann kam

wieder ein seltsames Gefühl in ihr, wurde vom Unbehagen über Unsicherheit zur Angst. Alles

innerhalb ein oder zwei Sekunden. Jessica holte Luft und wollte etwas sagen. Doch sie

brachte keinen Ton hervor. Sie konnte nur unfähig zu einer Regung auf den Alten vor sich

blicken. Der sah sie nur an und ihre Angst wurde größer. Angst, die sie sich nicht erklären

konnte, die aber da war. Fast spürbar, fast körperlich. Und sie schien von dem Alten

auszugehen.

Als Jessica fast meinte schreien zu müssen wandte er sich endlich ab. Ohne Worte öffnete er

eine Schublade. Eine schrecklich lange Sekunde hatte Jessica Angst er hätte einen Revolver

hervorgeholt. Doch es war nur ein Fotoapparat. Sie atmete auf, doch die Angst blieb in ihr.

Unangenehm Tief und seltsam bohrend, beunruhigend und... ...warnend!

"Wie sie sehen, liebe ich Fotografien..." sagte der Alte, hob den Apparat und drückte ab. Es

klickte und dann setzte er den Apparat ab. Sanft strichen seine Hände darüber. Und nun

glaubte Jessica zu verstehen. Der Fotoapparat glich eher einem Kasten, war aus Holz und

Leder. Er schien furchtbar Alt zu sein.

Er war Fotograf!

Vielleicht erklärte das die gelenkigen Finger. Aber es erklärte die vielen Fotos. Fast erleichtert

atmete sie auf. Das war die einfachste aller Erklärungen für alles. Der alte Mann war

Fotograf! Darum die Bilder! Natürlich...!

"Was kann ich denn für sie tun...?" fragte er und sah von der Kamera wieder direkt in ihre

Augen. Jessica setzte an und unterbrach sich dann. Sie hatte Mühe ihre Gedanken zu

sammeln. "Nichts. ich wollte nur..." sie zögerte und spürte wieder seinen fixierenden Blick.

Es war fast, als wüsste er, was sie dachte, als ahne er jeden ihrer Gedanken und würde sie

sezieren wie eine Spinne ihr Opfer.

Jessica räusperte sich. Ihr Hals fühlte sich ziemlich trocken an. "Nichts. Ich wollte nur fragen,

ob sie mir doch noch etwas sagen können...". Ich lächeln fiel unsicher und spärlich aus. Der

Alte kam zu ihr und schüttelte den Kopf. Sie nickte und trat zurück. "Dann werde ich jetzt

gehen..." sagte sie nur knapp.

Wieder ein Nicken von ihr. "Ist das beste für Dich...!" sagte er nur und seine Stimme hatte

einen solch seltsamen Klang, das sie zusammenzuckte. Schnell wich sie zurück, drehte sich

und lief fast aus dem Haus. Sie erreichte ihren weißen Golf und blickte zurück. Die Tür stand

offen. Immer noch. Fast schien sie ihr zuzugrinsen.

Der letzte Satz des Alten, so beiläufig er ihn hatte fallen gelassen, machte ihr Angst. Mehr

Angst als eine direkte Bedrohung. Gerade das belanglose von ihm hatte etwas unheilvolles an

sich gehabt.

Der Alte Mann war nicht zu sehen. Dennoch spürte Jessica fast so etwas wie eine Panik. Sie

rüttelte an den schmalen griffen der Tür und begriff erst mit Verzögerung, das sie

abgeschlossen hatte. Mit zitternden Fingern schaffte sie es, den Schlüssel einzuführen, drehte

ihn und stieg ein.

Als die Tür leise zuschnappe war sie den Kopf in die Nackenlehne und atmete tief durch. Ihr

Herz raste und pumpte laut Blut durch ihren Körper. Jessica saß nur da und wusste nicht, was

mit ihr war. Sie traute sich nicht, noch einmal zum Haus zurückzusehen.

Schnell ließ sei den Wagen an und startete.

Am Fenster des Hauses stand der Alte Mann und blickte an der Gardine vorbei nach draußen.

In seiner Hand hielt er eine Metallplatte mit Beschichtung. Sein Lächeln war Kalt und

seltsam. Kalt, abschätzend. Wartend. Denn er wusste, sie würde wiederkommen. Ob sie

wollte oder nicht. Er hatte ihr Foto. Und es würde ihr nicht gefallen, das er das hatte. Es hatte

noch keinen von allen gefallen. Sie kamen immer alle wieder um es zu holen.

Immer!

Und genau darauf wartete er...

Sie war schön, hatte schöne, seidige Haare die ihm schon immer so gefallen hatten. Immer

schon...

Lautlos drehte er sich um und verschwand in den kleinen Flur. Eine Tür führte in eine

Dunkelkammer.

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