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Woher kam Dracula?

(nach Stephan Vajda)

Jonathan Harker, von Beruf Anwaltsschreiber, wohnhaft in London, mit einer reizenden Engländerin namens Mina verlobt, fuhr Ende des 19. Jahrhunderts im Wonnemonat Mai mit dem Orient-Express über Wien und Budapest nach Siebenbürgen.

Es war seine Absicht, die Modalitäten eines Haus- und Grundstückkaufes mit einem reichen Klienten seiner Kanzlei an dessen entlegenem Wohnsitz zu regeln. In seinem Tagebuch hielt er mit der aufgeschlossenen Gründlichkeit eines englischen Geschäftsmannes das während seiner Reise Gesehene und Erlebte fest.

In Klausenburg soupierte er Paprikahuhn (Anmerkung:"Rezept für Mina verlangen"), schlief vermutlich infolge des üppigen Abendessens unruhig, nahm am nächsten Morgen den Bummelzug nach Bistritz, nach der damaligen Hauptstadt des ungarischen "Edlen Komitats Beszterce-Naszod", genoss die Fahrt durch das breite, sonnige Szamos-Tal und landete am späten Abend im Hotel "Zur goldenen Krone".

Er aß Räuberbraten, Stücke von Speck, Zwiebeln und Rindfleisch, mit Paprika gewürzt, trank dazu zwei Gläser weissen Mediasch und glaubte erneut, als er manche seltsame Zeichen eines kommenden Unheils wahrnahm,zu ausgiebig gespeist zu haben. Er setzte seine Reise jedoch unerschrocken, wie englische Geschäftsleute sind, mit der Postkutsche entlang des hellgrünen Bistritz Flusses über das Dorf Borgo Prund zum Borgo-Pass fort.

Die Postkutsche kam einige Minuten vor Mitternacht auf der Passhöhe an. Hier fand, am 4. Mai, um null Uhr, die unvergessliche Begegnung zwischen Jonathan Harker und seinem künftigen Gastgeber, einem auffallend blassen, hageren Mann mit scharfer Adlernase, rötlichen Augen und großen, schneeweißen Zähnen statt.

Eine gruselhistorische Begegnung von ungeahnter Tragweite. Denn der vornehme Klient, der übrigens ausgezeichnet englisch sprach und in London Haus und Grundstück kaufen wollte, hieß Graf Dracula!

Er residierte in der Nähe des Borgo-Passes, über den die staubige Strasse von Bistritz nach Dorna Watra in die Bukowina führt, auf einem riesigen, baufälligen Schloss. Aber er residierte hier, inmitten der "geheimnisvoll rauschenden Karpathen", nicht mehr lange; er tauchte bald in allen Buchhandlungen der angelsächsischen Welt auf, agierte auf der Bühne, spukte auf der Leinwand. Sein Name wurde Inbegriff blutsaugender Vampire. Dracula!

Der Mann, der den unheimlichen Grafen mit dem blutroten Mund und einem distinguierten Leichengeruch erfand beziehungsweise nach alten Überlieferungen neu gestaltete und zum souveränen Herrscher des modernen Schreckenkults erhob, hat Siebenbürgen nie gesehen.

Der englische Schriftsteller Bram Stoker (1847-1912), der Trotz dem genialen Horrorwurf arm und unbekannt starb, bevor sein schwarzer Graf zum Weltruhm gelangte, schilderte die unheimliche Reise des peniblen Anwaltsschreibers Jonathan Harker anhand des Fahrplanes der Königlich-Ungarischen Staatsbahnen und nach flüchtigem Studium der Landkarten des Königlich Ungarischen Geographischen Instituts.

Er übersiedelte dabei den adligen Vampir aus seiner ursprünglichen Heimat, aus der Walachei südlich der Karpaten, in den Nordosten Siebenbürgens und schenkte ihm nicht nur das verfallene Schloss des Erbgrafen von Bistritz, des ungarischen Nationalhelden Janos Hunyadi, sondern auch seine Siege über die Türken.

Graf Dracula, der tagsüber in der Familiengruft ruht, nachts aber ungeachtet seines hohen Alters von mehr als vierhundert Jahren (laut Eintragung in Harkers Tagebuch), gerne am Kamin plaudert, bezeichnet seinen Vorfahren als Szekler, also Ungarn, Feldherrn, unerbittlichen Feind des Halbmondes.

Später kommt Jonathan Harker darauf, dass Dracula, der längst begrabene Held der Türkenkriege, und Dracula, sein aufmerksamer Gastgeber, ein und dieselbe Person sind.

Eine schauderhafte Verquickung in Anbetracht der geographischen Verlagerung nach Bistritz, an die noch kein Vampirologe zu denken wagte. Denn das würde noch der Version Bram Stokers heißen, dass die Mittagsglocken, deren Läuten Papst Calixtus III. zu Ehren des wundersamen Sieges von Janos Hunyadi bei Belgrad angeordnet hatte, noch heute in allen Kirchen des christlichen Abendlandes zum Andenken des Vampirs Graf Dracula ertönen. Ich hoffe, dass diese abwegige Hypothese den begeisterten Draculisten eine teuflische Freude bereitet.

Nach dem letzten Stand der internationalen Draculaforschung tauchte der Name des Vampir-Menschen Drakul erstmalig Mitte des 15. Jahrhunderts in der Walachei, südlich von Kronstadt und Hermannstadt, auf. Er sei ein walachischer Fürst (Wajda) gewesen, lebendig weit grausamer als nach seinem Tode, ein Tyrann, ein unbarmherziger Blutsauger.

Im Verhältnis zu seinem großen Gruselbruder Graf Dracula gebärdete er sich dann als Vampir beinahe harmlos, wie die in der Budapester Szechenyi-Bibliothek aufbewahrte deutsche Chronik "Uan deme quaden thyrane Dracola Wyda" zu berichten weiß.

Er hatte weder Zaubergewalt über Wölfe, noch konnte er blühende Jungfrauen zu seinen blutrünstigen Gespielinnen verwandeln. Die Figur des "lebendigen Leichnams", der nachts aus seinem Grabe steigt, um sich mit frischem Menschenblut zu ernähren, war in Siebenbürgen ein aus dem südslawischen Raum zur Zeit der gro8en Pestepidemien eingeschlepptes Gespenst, das in der Seele des Volkes kaum tiefe Spuren hinterlassen hatte. Die Phantasie der Szekler lehnt den Vampir überhaupt ab. Die Toten der Szekler reiten auf der Milchstrasse, wachen über Heil und Gut der Lebenden, und wenn ein Stern in den klaren Augustnächten über dem Hargita-Gebirge abstürzt, so wurde er von den Hufen einer Geisterpatrouille losgetreten.

Dass Bram Stoker in seiner Londoner Schreibstube Dracula gerade zum Szekler gemacht hatte, ist einer seiner schweren Irrtümer, der ihm zwischen Tirgu Mures und Klausenburg. niemals verziehen wird. Warum er es tat, bleibt wahrscheinlich ein ebenso unlösbares Rätsel der Vampir-Literatur wie sein Motiv, den wohlerzogenen Blutsauger auf dem Borgo anzusiedeln. Die Landschaft zwischen Bistritz und der Grenze nach der Bukowina ist gar nicht draculös, sie ist weder finster noch bedrohlich, sie gleicht einem großen Obstgarten mit grünem Rasen und rotgoldenem Laub.

Die Berge hinter dem leichten Nebel präsentieren sich ein wenig verschlafen, in hellen Farben, mit verschwommenen Linien; auch der Istenszek (Gottesstuhl) mit seiner bescheidenden Höhe von 1380 Metern, den Jonathan Harker in seinem immer unheimlicher werdenden Reisetagebuch als "einen ungeheueren, schnee-bedeckten Gipfel" beschrieb, dessen Anblick seine Mitreisenden in der Postkutsche verstummen ließ, lädt eher zu einer fröhlichen Wandeprung als zur Vampir-Jagd ein. Ich muss übrigens leider bezweifeln, dass Mr. Harker den Berg von der Borgo-Stra8e jemals gesehen haben könnte, denn der Istenszhk wird von dem 1500-1600 Meter hohen Kelemen-Gebirge vollkommen verdeckt.

Die Passhöhe, wo Graf Dracula zur Stunde der Geister den Anwaltsschreiber aus London mit seiner Kalesche erwartet hatte, ist keine düstere Felsenschlucht, wo die Wölfe heulen, sondern ein breites, sonniges Hochplateau mit herrlichem Ausblick tief in die Bukowina hinein. Eine stille, verlassene Landschaft; der Wind riecht nach Kräutern und Honig, die Lichter sind sanft, die Schatten weich.

Aber heute ist daran nicht mehr zu rütteln: Dracula kam von hier, um, wie so viele zähe Söhne dieses Wunderlandes, im Westen Karriere zu machen. Sollten Sie einmal diese Gegend besuchen und von Bistritz über die Karpaten nach der Bukowina fahren, meiden Sie den Borgo-Pass, besonders nach Einbruch der Dunkelheit. Denn schließlich, man kann nie wissen...