Carmilla IV: Ihre Gewohnheiten. Ein kurzer Spaziergang

Ich habe bereits erwähnt, daß ich sie in vielerlei Hinsicht reizend fand. Manches an ihr gefiel mir allerdings nicht so gut.

Ich will zuerst ihr Äußeres beschreiben. Für eine junge Dame war sie ungewöhnlich groß. Sie war schlank und wunderbar graziös. Abgesehen davon, daß ihre Bewegungen etwas auffallend Träges hatten, verriet nichts an ihr, daß sie eine Rekonvaleszentin war. Sie hatte einen lebhaften, strahlenden Teint und ein schmales, wohlgeformtes Gesicht mit großen, dunklen, glänzenden Augen. Ihr Haar war herrlich. Nie habe ich üppigeres und längeres gesehen als das ihre, wenn sie es frei über die Schultern wallen ließ. Ich habe oft meine Hände darin vergraben und immer wieder freudig festgestellt, wie schwer es war. Es fühlte sich fein und weich an, und über dem dunklen, satten Braun lag ein Goldschimmer. Ich liebte es, während sie im Sessel lehnte, ihr Haar zu lösen und zu sehen, wie es schwer herabfloß. Ich teilte und flocht es, ich breitete es um sie und spielte damit. Himmel! Hätte ich doch damals alles gewußt!

Ich sagte vorhin, daß mir einiges an ihr nicht gefiel. Wie ich Ihnen erzählt habe, nahm mich ihre Zutraulichkeit gleich am ersten Abend für sie ein. Dann aber bemerkte ich, daß sie in allem, was sie selbst, ihre Mutter, ja überhaupt ihr ganzes bisheriges Leben und ihre weiteren Pläne betraf, äußerste Zurückhaltung übte. Vielleicht war ich unvernünftig, vielleicht täuschte ich mich. Sicher hätte ich die feierliche Verpflichtung, die die vornehme Dame in Schwarz meinem Vater auferlegt hatte, respektieren sollen. Aber die Neugier ist eine nimmermüde, bedenkenlose Leidenschaft, und kein Mädchen kann es geduldig ertragen, von einer Freundin im Ungewissen gelassen zu werden. Wem würde es schon schaden, wenn sie mir verriete, was mich so brennend interessierte? Setzte sie kein Vertrauen in mein Urteilsvermögen und meine Diskretion? Warum glaubte sie mir nicht, wenn ich ihr feierlich versprach, keinem Menschen ein Wort zu verraten?

Wenn sie sich lächelnd, melancholisch und hartnäckig weigerte, mich auch nur einen Schimmer der Wahrheit erhaschen zu lassen, glaubte ich eine Kälte zu spüren, die sich mit ihrer Jugend nicht vertrug.

Ich kann nicht behaupten, daß wir uns deswegen zankten. Sie zankte sich nie mit mir. Es war gewiß sehr unfair und unhöflich von mir, sie mit Fragen zu bedrängen, aber ich konnte einfach nicht anders. Ich hätte es lieber bleiben lassen sollen.

Was sie mir tatsächlich erzählte, schätzte ich, unvernünftig wie ich war, gering.

Es ließ sich in drei mageren Sätzen zusammenfassen: Sie hieß Carmilla. Ihre Familie war sehr alt und von Adel. Ihre Heimat lag irgendwo im Westen.

Sie wollte mir weder ihren Familiennamen noch ihr Wappen verraten, weder den Namen ihres Wohnsitzes noch ihr Heimatland. Denken Sie bitte nicht, daß ich sie unablässig mit meiner Neugier quälte. Ich wartete stets auf eine gute Gelegenheit und auch dann stellte ich eher beiläufige als drängende Fragen. Einige Male ging ich allerdings geradewegs auf mein Ziel los. Aber welche Taktik ich auch anwandte, Erfolg hatte ich nie. Weder mit Vorwürfen noch mit Zärtlichkeiten war ihr beizukommen. Und dennoch - wenn sie mir auswich, tat sie es mit soviel sanfter Schwermut und leisem Tadel, mit so vielen fast leidenschaftlichen Vertrauens- und Sympathiebekundungen und mit so vielen Versprechungen, mir eines Tages alles zu erzählen, daß ich es nicht übers Herz brachte, ihr lange zu grollen.

Oft schlang sie dann ihre schönen Arme um meinen Hals, zog mich an sich, legte ihre Wange an die meine und flüsterte, die heißen Lippen an mein Ohr gepreßt: "Liebste, ich weiß, du fühlst dich im Innersten verletzt. Halte mich nicht für grausam, wenn ich so handle, wie die Stärken und Schwächen meiner Natur es mir vorschreiben. Wenn dein sanftes Herz verwundet ist, blutet mein wildes Herz mit ihm. Meine tiefe Demütigung genießend, lebe ich in deinem warmen Leben, und du wirst in mein Leben hineinsterben - süß sterben. Ich kann nicht anders: So, wie ich dir heute nahe bin, wirst du eines Tages anderen nahe sein und die Wonne dieser Grausamkeit, die doch nichts als Liebe ist, kennenlernen. Versuche also vorläufig nicht mehr, etwas über mich und die Meinen zu erfahren, sondern vertraue mir mit der ganzen Kraft deiner Liebe."

Nach derart überschwenglichen Worten schlossen sich ihre bebenden Arme stets noch fester um mich, und ihre warmen Lippen küßten sanft die meinen.

Ihre Empfindungen waren mir ebenso unverständlich wie ihre Worte.

Ich gebe zu, daß ich mich diesen törichten Umarmungen, zu denen es übrigens nicht so oft kam, gern entzogen hätte; aber mir fehlte die Kraft dazu. Ihr Flüstern klang mir wie ein Wiegenlied, lähmte meinen Widerstandswillen und versetzte mich in einen tranceähnlichen Zustand, aus dem ich erst erwachte, wenn sie ihre Arme sinken ließ.

In diesen unheimlichen Augenblicken mochte ich sie nicht. Ich empfand dann jedes Mal eine seltsame, stürmische Erregung, die zwar wohltuend war, in die sich aber sogleich ein vages Gefühl der Angst und des Ekels einschlich. Während solcher Szenen konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, empfand aber eine an Anbetung grenzende Zuneigung und zugleich eine Art Abscheu. Ich weiß, das klingt paradox, aber anders kann ich diesen Zustand nicht beschreiben. Noch heute, nach so vielen Jahren, zittert mir die Hand beim Schreiben, lähmt mich die furchtbare Erinnerung an bestimmte Vorfälle und Situationen, die ich überstehen mußte, ohne ihre Bedeutung zu ahnen. Die wichtigsten Ereignisse meiner Geschichte jedoch sind mir klar und deutlich ins Gedächtnis eingegraben. Wahrscheinlich gibt es im Leben eines jeden Menschen Augenblicke, in denen wilde und schreckliche Leidenschaften ihn so überwältigt haben, daß er sich später jener Momente nur noch vage erinnert.

Manchmal nahm meine schöne, seltsame Gefährtin, wie aus langer Apathie erwachend, meine Hand, hielt sie fest und zärtlich umschlossen und drückte sie immer wieder. Dann blickte sie mich sanft errötend mit schmachtenden, brennenden Augen an und atmete so heftig, daß ihre Brust sich stürmisch hob und senkte. Es war, als säße mir ein von Glut verzehrter Liebhaber gegenüber. Mir war das peinlich. Ich fühlte mich gleichzeitig abgestoßen und überwältigt. Dann zog sie mich, mit triumphierenden Blick, an sich, ließ ihre heißen Lippen über meine wandern und flüsterte fast schluchzend: "Du gehörst mir, du wirst mir immer gehören, und du und ich sind eins für ewig." Dann ließ sie sich in den Sessel zurückfallen und verbarg ihre Augen hinter den zarten Händen, während ich zitternd und bebend neben ihr saß.

"Sind wir miteinander verwandt?" fragte ich sie oft. "Was meinst du, wenn du so mit mir sprichst? Vielleicht erinnere ich dich an jemanden, den du liebst? Aber laß' es bitte, ich hasse solche Szenen. Ich erkenne dich dann nicht wieder - ich kenne mich selbst nicht mehr, wenn du mich so ansiehst und mir solche Dinge sagst."

Meist entlockte ihr meine Heftigkeit einen Seufzer; dann ließ sie meine Hand los und wandte sich ab. Umsonst versuchte ich, eine einleuchtende Erklärung für diese ungewöhnlichen Gefühlsausbrüche zu finden, die sich weder als Affektiertheit noch als Scherz abtun ließen. Zweifellos brachen in solchen Augenblicken unterdrückte Instinkte und Sehnsüchte hervor. Litt sie, entgegen der Versicherung, die ihre Mutter unaufgefordert gegeben hatte, unter vorübergehenden Wahnsinnsanfällen? Oder handelte es sich gar um eine romantische Verkleidungsaffäre? In alten Geschichten hatte ich von solchen Dingen gelesen. Hatte vielleicht ein kindischer Bewunderer, unterstützt von einer alten, schlauen Abenteurerin, den Weg in unser Haus gefunden, um mir in Frauenkleidern den Hof zu machen? Aber vieles sprach gegen diese Vermutung, so sehr sie auch meiner Eitelkeit schmeichelte.

Aufmerksamkeiten, wie man sie von galanten Herren erwarten darf, wurden mir von seiten Carmillas nicht selten zuteil. Solchem Gefühlsüberschwang folgten stets Tage, an denen nichts Besonderes geschah, und die sie entweder heiter oder in brütender Schwermut verbrachte. Wenn ich nicht bemerkt hätte, wie ihre düster glühenden Augen mich verfolgten, hätte ich manchmal glauben können, ich existierte gar nicht für sie. Abgesehen von den Momenten geheimnisvoller Erregung benahm sie sich ganz wie ein normales junges Mädchen, und auch ihre ständige Mattigkeit entsprach keineswegs dem Bild, das man sich von einem gesunden Mann macht.

Sie hatte einige seltsame Angewohnheiten. Jemand, der in der Stadt wohnt wie Sie, mag darüber freilich anders denken als wir auf dem Land. Sie kam immer erst sehr spät zu uns herunter, meist nicht vor ein Uhr mittags, trank eine Tasse Schokolade, aß aber nichts dazu. Dann machten wir gewöhnlich einen Spaziergang, einen sehr kurzen allerdings, da sie sofort müde wurde und entweder ins Schloß zurückkehrte oder sich auf einer Bank im Schatten niederließ. Ihre körperliche Ermattung wirkte sich aber nicht im geringsten auf ihren Geist aus. Stets unterhielt sie sich angeregt, stets zeigte sie eine wache Intelligenz.

Manchmal spielte sie kurz auf ihre Heimat an oder erwähnte ein Erlebnis, eine Einzelheit oder eine Kindheitserinnerung, die auf ein Volk mit seltsamen Gepflogenheiten schließen ließen, mit Sitten, die uns unbekannt waren. Ich entnahm diesen gelegentlichen Bemerkungen, daß ihr Heimatland viel ferner sein mußte, als ich anfangs vermutet hatte.

Als wir eines Nachmittags unter den Bäumen saßen, kam ein Leichenzug vorbei. Man trug ein junges, hübsches Mädchen zu Grabe, dem ich oft begegnet war: die Tochter eines Waldhüters. Der Arme ging gramgebeugt hinter dem Sarg seines einzigen Kindes. Ihm folgten, ein Kirchenlied singend, die Bauern.

Ehrfurchtsvoll stand ich auf und stimmte in den traurigen Gesang ein.

Da gab mir meine Begleiterin einen recht unsanften Stoß. Überrascht sah ich sie an. "Hörst du nicht, wie entsetzlich falsch das klingt?" fragte sie schroff.

"Im Gegenteil, ich finde es schön und rührend", antwortete ich, verärgert über die Störung und peinlich berührt von dem Gedanken, die Leute im Leichenzug könnten die Szene beobachtet und übelgenommen haben.

Ich sang weiter, wurde aber sofort wieder unterbrochen. "Du ruinierst mein Trommelfell!" rief Carmilla ärgerlich und hielt sich mit ihren schlanken Fingern die Ohren zu. "Und weißt du denn überhaupt, ob du und ich dieselbe Religion haben? Dein Ritual verletzt mich, und außerdem hasse ich Beerdigungen. So ein Getue! Sterben muß schließlich jeder, und jeder wird dadurch glücklicher."

"Vater ist mit dem Pfarrer zum Friedhof gegangen. Ich dachte, du weißt, daß sie heute begraben wird."

"Wer ist sie? Ich verschwende meine Gedanken nicht an Bauern. Ich weiß nicht, wer sie ist", erwiderte Carmilla mit blitzenden Augen.

"Das arme Mädchen, das sich vor zwei Wochen eingebildet hatte, ein Gespenst zu sehen, und das seitdem immer kränker wurde und gestern starb."

"Sprich bloß nicht von Gespenstern, sonst kann ich heute nacht nicht schlafen!"

"Hoffentlich ist keine Seuche im Anzug", fuhr ich fort. "Alles scheint darauf hinzudeuten. Die junge Frau des Schweinehirten ist vorige Woche gestorben. Sie behauptete, jemand habe sie nachts im Bett am Hals gepackt und fast erwürgt. Papa sagt, daß solche schrecklichen Träume bei bestimmten fiebrigen Erkrankungen auftreten. Sie war am Tag zuvor völlig gesund."

"Nun, ihr Begräbnis ist hoffentlich vorbei, und ihr Kirchenlied gesungen! Jedenfalls wird man unsere Ohren nicht noch einmal mit dergleichen Mißtönen und Kauderwelsch martern. Setz' dich zu mir, ganz nah! Halte meine Hand, ganz fest - fester, fester!"

Wir waren ein Stück zurückgegangen, und nun ließ sie sich auf einer anderen Bank nieder. Ihr Gesicht verwandelte sich in einer Weise, die mir Schrecken, einen Augenblick lang sogar Entsetzen einjagte. Es verdüsterte sich und wurde furchtbar fahl. Mit zusammengebissenen Zähnen, geballten Händen, gerunzelten Brauen und aufeinandergepreßten Lippen starrte sie zu Boden und zitterte dabei am ganzen Körper, als sei sie von heftigem Schüttelfrost befallen. Sie schien mit äußerster Anstrengung einen Anfall zu unterdrücken. Endlich, nach atemlosem Kampf, brach ein dumpfer, erschütternder Schmerzensschrei aus ihr hervor, und dann verebbte ihre hysterische Erregung. "Siehst du, das kommt davon, wenn sie einem mit Kirchenliedern den Hals zuschnüren!" sagte sie schließlich. "Halt' mich fest, laß' mich nicht los! Es geht schon vorüber."

Es ging vorüber. Und dann, vielleicht um mich diese deprimierende Szene vergessen zu lassen, wurde sie ungewöhnlich lebhaft und gesprächig. So machten wir uns auf den Heimweg.

Es war das erste Mal, daß ich Zeichen jener Anfälligkeit an ihr entdeckte, von der ihre Mutter gesprochen hatte. Und es war das erste Mal, daß ich sie gereizt sah.

Beides verflüchtigte sich wie eine Wolke am Sommerhimmel. Nur noch ein einziges Mal erlebte ich, daß der Zorn für einen Augenblick mit ihr durchging. Ich will Ihnen davon berichten.

Als wir eines Tages im Salon an einem der hohen Fenster standen, kam von der Zugbrücke her ein Wanderer in den Schloßhof. Ich kannte ihn gut. Er kam meist zweimal im Jahr zu uns.

Er war bucklig und hatte ein hageres, scharfgeschnittenes Gesicht, wie man es oft bei mißgestalteten Menschen findet. Er trug einen schwarzen Spitzbart und lachte übers ganze Gesicht, wobei er ein wahres Raubtiergebiß zur Schau stellte. Sein Gewand war aus lederfarbenem, schwarzem und scharlachrotem Tuch, darüber trug er unzählige Riemen und Gurte, an denen die verschiedensten Gegenstände hingen. Auf den Rücken hatte er sich eine Laterna magica und zwei mir wohlbekannte Kästchen gepackt: das eine enthielt einen Salamander, das andere eine Alraune. Die beiden Ungeheuer brachten meinen Vater jedesmal zum Lachen. Sie bestanden aus getrockneten Teilen von Affen, Papageien, Eichhörnchen, Fischen und Igeln, die fein säuberlich zusammengenäht waren. Die Wirkung war erstaunlich. Der Bucklige hatte eine Fiedel, eine Schachtel mit Taschenspielerutensilien, zwei Florette und Fechtmasken am Gürtel hängen, um ihn herum baumelten mehrere geheimnisvolle Kästchen, und in der Hand hielt er einen schwarzen Stab mit Kupferbeschlägen. Ein dürrer, struppiger Hund folgte ihm auf den Fersen, blieb jedoch an der Zugbrücke plötzlich stehen, witterte mißtrauisch und begann dann jämmerlich zu jaulen.

Der Gaukler war mitten im Schloßhof stehengeblieben, hatte seinen komischen Hut gezogen, sich gravitätisch vor uns verneigt und uns in abscheulichem Französisch und nicht viel besserem Deutsch seinen wortreichen Gruß entboten. Dann hob er die Fiedel, kratzte eine fröhliche Weise, sang dazu unbekümmert in der falschen Tonart und führte einen so drolligen Tanz auf, daß ich trotz des schrecklichen Hundegeheuls lachen mußte.

Den Hut in der Hand und die Fiedel unterm Arm kam er dann zu uns herüber, pries mit einem einzigen Wortschwall den ganzen Katalog seiner Künste an und erbot sich, uns alle möglichen Kuriositäten und Belustigungen vorzuführen.

"Wollen die hochwohlgeborenen Damen vielleicht ein Amulett zum Schutz gegen den Vampyr kaufen, der wie ein Wolf durch diese Wälder streifen soll?" fragte er und ließ seinen Hut aufs Pflaster fallen. "Ringsum sterben seine Opfer, ich aber habe ein Mittel, das nie versagt. Stecken Sie sich ein Amulett ans Kopfkissen und Sie können ihm ins Gesicht lachen!"

Seine Amulette bestanden aus Pergamentstreifen, die mit kabalistischen Zeichen bedeckt waren.

Carmilla kaufte ihm sofort eines ab, und ich folgte ihrem Beispiel.

Er sah zu uns herauf, wir blickten amüsiert zu ihm hinunter. Ich jedenfalls hatte meinen Spaß an ihm. Während er uns mit seinen stechenden schwarzen Augen ansah, schien irgend etwas seine Neugier zu erregen.

Im Nu hatte er eine Lederrolle geöffnet, die mit seltsamen kleinen Stahlinstrumenten verschiedenster Art gefüllt war.

"Sehen Sie sich das an, mein Fräulein", sagte er zu mir. "Ich darf sagen, daß ich mich neben anderen weniger nützlichen Dingen auch auf die Kunst des Dentisten verstehe. Zum Teufel mit diesem Hund!" unterbrach er sich plötzlich. "Willst du wohl ruhig sein, du Kanaille! Er heult so, daß Euer Hochwohlgeboren kein Wort verstehen können. Ihre erlauchte Freundin, die junge Dame dort, hat äußerst scharfe Zähne, lang, dünn und spitz wie Pfriemen oder Nadeln." Er lachte. "Ich hab' scharfe Augen und kann's von hier aus deutlich erkennen. Sicher tut sie sich oft weh damit. Ich kann ihr helfen. Hier habe ich Feile, Meißel und Zange. Wenn die Dame gestattet, werde ich ihre Zähne hübsch zurechtfeilen. Eine junge schöne Dame darf doch keine Fischzähne haben, nicht wahr? O je! Ist mir die Dame böse? War ich zu aufdringlich? Habe ich sie gekränkt?"

Die junge Dame machte tatsächlich ein böses Gesicht, als sie rasch zurücktrat.

"Wie kann dieser Scharlatan es wagen, uns so zu beleidigen? Wo ist dein Vater? Ich werde ihn bitten, den Kerl zur Rede zu stellen. Mein Vater hätte diesen erbärmlichen Schuft an den Pumpenschwengel binden, auspeitschen und ihm unser Wappen bis auf die Knochen einbrennen lassen!"

Sie entfernte sich vom Fenster und setzte sich. Als ihr der Missetäter aus den Augen war, legte sich ihr Zorn ebenso rasch wie er aufgeflammt war. Allmählich fand sie ihre Haltung wieder und schien den kleinen Buckligen und seine Narretei vergessen zu haben.

An diesem Abend war mein Vater in gedrückter Stimmung. Schon beim Eintreten erzählte er uns, es habe sich wieder ein ähnlicher Fall ereignet wie die beiden, die vor kurzem tödlich ausgegangen waren. Die Schwester eines in seinen Diensten stehenden jungen Bauern, die nur eine Meile von uns entfernt wohnte, war sehr krank. Ihrer Schilderung nach war sie auf fast die gleiche Weise wie die anderen angefallen worden und nun siechte sie unaufhaltsam dahin. "Alle diese Fälle", erklärte mein Vater, "sind zweifellos auf natürliche Ursachen zurückzuführen. Diese bedauernswerten Menschen stecken einander mit ihrem Aberglauben an und bilden sich dann ein, von den gleichen schrecklichen Erscheinungen heimgesucht zu werden wie ihre Nachbarn."

"Aber das ist es ja gerade, was einem so entsetzliche Angst einjagt", sagte Carmilla.

"Wieso?" fragte mein Vater.

"Ich fürchte mich davor, mir eines Tages auch solche Dinge einzubilden. Ich glaube, das wäre ebenso furchtbar, wie wenn sie tatsächlich geschähen."

"Wir sind alle in Gottes Hand; nichts geschieht gegen seinen Willen, und für die, die Ihn lieben, wird alles zu einem guten Ende kommen. Er ist unser getreuer Schöpfer. Er hat uns alle gemacht und wird uns behüten."

"Schöpfer? Natur!" hielt die junge Dame meinem frommen Vater entgegen. "Und auch die Krankheit, die hier auftritt, ist eine natürliche Angelegenheit. Natur! Alles, was ist, kommt aus ihr - oder etwa nicht? Gehorchen nicht alle Dinge im Himmel, auf Erden und unter der Erde ihren Gesetzen? Ich bin überzeugt davon."

Nach längerem Schweigen sagte mein Vater: "Der Arzt hat sich für heute angemeldet. Ich will wissen, was er von der Sache hält und was er uns zu tun rät."

"Ärzte haben mir nie helfen können", bemerkte Carmilla.

"Dann bist du also krank gewesen?" fragte ich.

"Kränker als du jemals warst", antwortete sie.

"Ist das schon lange her?"

"Ja, sehr lange. Ich litt an genau der gleichen Krankheit, aber ich kann mich nur noch an meine Schmerzen und Schwächeanfälle erinnern, und die waren nicht so schlimm wie bei anderen Erkrankungen."

"Du mußt damals sehr jung gewesen sein."

"Das kann man wohl sagen. Aber sprechen wir nicht mehr davon. Du wirst doch einer Freundin nicht wehtun wollen?" Sie sah mir schmachtend in die Augen, legte mir zärtlich den Arm um die Taille und führte mich aus dem Zimmer. Mein Vater, der sich ans Fenster gesetzt hatte und mit einigen Schriftstücken beschäftigt war, blieb zurück.

"Warum macht dein Papa uns so gern Angst?" fragte Carmilla seufzend und leicht erschaudernd.

"Aber Carmilla, das tut er doch gar nicht. Nichts läge ihm ferner."

"Fürchtest du dich, Liebste?"

"Ich würde mich sehr fürchten, wenn ich mich in der gleichen Gefahr wüßte wie diese armen Menschen."

"Fürchtest du dich vor dem Sterben?"

"Ja. Davor fürchtet sich doch jeder."

"Aber zu sterben wie zwei Liebende - miteinander sterben, um danach miteinander leben zu dürfen! Die Mädchen verbringen ihr Leben in dieser Welt wie Raupen, und erst wenn der Sommer kommt, werden sie Schmetterlinge. Vorher aber sind sie wie Maden und Larven, nicht wahr, mit den gleichen Gewohnheiten und Bedürfnissen und von der gleichen Beschaffenheit wie diese. Das schreibt Monsieur Buffon in seinem großen Buch - es steht drüben im Zimmer."

Später kam der Arzt und hatte eine vertrauliche Unterredung mit Papa. Er war ein sachkundiger Mann in den Sechzigern. Er puderte sich, und sein bartloses Gesicht war glatt wie ein Kürbis. Als er zusammen mit Papa aus dem Zimmer trat, hörte ich diesen lachend sagen:

"Also wirklich, von einem so klugen Mann wie Sie es sind hätte ich das nicht erwartet. Was halten sie denn von geflügelten Pferden und Drachen?"

Der Arzt wiegte lächelnd den Kopf.

"Trotz allem", sagte er, "Leben und Tod sind geheimnisvolle Bereiche, und wir wissen wenig über die darin wirksamen Kräfte."

Dann gingen die beiden weiter, und ich konnte nichts mehr von ihrer Unterhaltung hören. Ich wußte damals nicht, wovon der Arzt gesprochen hatte, heute jedoch glaube ich es erraten zu können.  

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